Eingesperrt!? - Reiselust und Reisefrust in der DDR
Waltraud Seidel erzählt über Reiseerlebnisse zu DDR-Zeiten.
"Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht mur eine Seite davon."
Mit diesen Worten des Augustinus Aurelius leitet Waltraud Seidel ihre Reiseerzählungen ein. Wirklichen Leseratten aber genügt diese eine Buch-Seite nicht. Und die DDR hatte viele Leseratten, die das WELT-Buch erkunden wollten und auch erkundet haben. Und kann so eine Leseratte die obersten Regalteile nicht erreichen, dann wählt sie ihren Lesestoff eben aus erreichbarer Höhe. Aber sie liest und liest und liest.
Und genau so hatten es die Reiselustigen der DDR gemacht. Sie bereisten die Weltteile, die sie erreichen konnten. "Ja, wart ihr denn nicht eingesperrt?!" Wie oft wurde das gefragt, wenn sie von ihren vielen Auslandsreisen erzählte. Eingesperrt? Wer unbedingt in den Alpen klettern, wer Paris, oder gar New York sehen wollte, der fühlte sich wohl eingesperrt. Wer stattdessen die Berge der Hohen Tatra besteigen, im Moskauer Bolschoi-Theater "Schwanensee" erleben. am Balaton oder am Schwarzen Meer seinen Badeurlaub verbringen wollte, für den gab es auch als DDR-Bürger wunderschöne Reiseziele und herrliche Urlaubserlebnisse. Eingesperrt oder eingeschränkt? Ansichtssache!
Was musste Walter Janka erdulden, was Wolfgang Harich, Erich Loest, auch Peter Sodann und so viele andere, die wegen sogenannter "staatsgefährdender Hetzte" jahrelang im Zuchthaus, zumeist in Bautzen, tatsächlich eingesperrt waren. Oft vergessen auch, damals gab es in der DDR noch die Todesstrafe. Geboren im Grundübel des Stalinismus wurden derartige Exempel statuiert. Sie gehören zu den schrecklichsten Seiten des DDR-Regimes. Und das erfährt der Leser im ersten Kapitel des Buches. Dem Normalverbraucher in relativ gesicherter Lebensposition wurde das von der Tagespresse als gelungener Sieg gegen gefährliche Feinde des Staates offeriert. Erfolgreich offensichtlich, könnte sonst das Sprachbild vom "DDR-Gefängnis", vom Eingesperrt-Sein so unüberlegt geschwätzig in Diskussionen geworfen werden? Es war in einer Wiener Gesprächsrunde, als Waltraud Seidel von ihren Auslandsreisen erzählt hatte. Von dort die Aufforderung: Das musst du aufschreiben. Wer könne das besser als eine Zeitzeugin, noch dazu eine bewährte Autorin? So ein Mitarbeiter des Wiener Karina-Verlages. Jetzt liegt das Buch vor, erschienen in jenem Wiener Verlag. Spannend und unterhaltsam geschrieben, erlebt der Leser einen beeindruckenden Abschnitt ostdeutscher, ja osteuropäischer Reise-Geschichte.
Die Autorin beginnt mit dem Sommer 1960. Achtzehnjährig ging es mit ihrer Schulklasse nach bestandenem Abitur über Prag in die Hohe Tatra ins Internationale Studentenlager. Organisiert von einem großartigen Klassenlehrer, jung, aktiv, reiselustig. "Wie ist die Welt so groß und schön ...", wie oft hatten sie dieses Lied begeistert gesungen. Und es begleitete sie ein Leben lang durch das tschechisch-polnische Riesengebirge, durchs bulgarische Piringebirge, durch ihre einstige schlesische Heimat. Auch durch Warschau, Krakau, Torun, durch Moskau und Leningrad, durch Ungarn, Rumänien bis nach Bulgarien. Endlich dann im Jahre 1990 erfüllte sich ihre jahrzehntelange Sehnsucht: Einmal Wien, einmal vom Stephansdom hineinschauen in das weite Wiener Land. Lebhaft und kurzweilig erzählt, gelingt es, dabei ein diffiziles Stimmungsbild des Lebens in der DDR zu vermitteln. Informativ und abwechslungsreich auch die Naturschilderungen, der Blick in bereiste sehenswerte Städte, in bemerkenswerte Architektur und historisch Wichtiges, interessante Sagenwelten der bereisten Länder. Definitiv gab es sie. die Reisedefizite, darauf verweisen die letzte Worte dieses interessanten, lesenswerten Buches über eine bisher literarisch eher vernachlässigte Seite des DDR-Lebens : Auch wir sind durch die Welt gereist, dazu will ich ergänzen: Unsere Reiselust, sie war grenzenlos, die Reisefreiheit, die hielt sich in Grenzen.