Der Roman ¿Die Abtrünnigen¿ stellt zwei gesellschaftlich inakzeptable Liebesgeschichten in den Fokus, die Leid verursachen und alle Beteiligten vor schwierige Entscheidungen stellen. In drei Teile gegliedert, umfasst Gurnahs Roman einen zeitlichen Rahmen von etwa 1890, über die 1950er und 1960er Jahre bis in das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts hinein. Hassanali, der mit seiner Frau und seiner Schwester Rehana in einer kleinen Stadt in Ostafrika lebt, findet im Morgengrauen nahe der Moschee einen völlig entkräfteten Mann. Er nimmt ihn bei sich auf, lässt eine Heilerin und den lokalen Experten für Knochenbrüche kommen und kümmert sich um ihn. Wie sich herausstellt, handelt es sich um den englischen Forschungsreisenden Martin Pearce. Pearce Charakter wird in starkem Kontrast zu anderen Angehörigen der Kolonialmacht gezeichnet, hat er doch ein echtes Interesse an Land und Leuten, spricht die Landessprache. Nach seiner vollständigen Genesung sucht Martin Pearce Hassanalis Familie auf, um sich für seine Rettung zu bedanken. Der gastfreundliche Hassanali lädt ihn zum Essen ein; Rehana und Martin verlieben sich.Der zweite Teil beginnt in den 1950er Jahren. Wir lernen dort Jamila, Rehanas Enkelin, und drei Geschwister einer muslimischen Familie kennen: Amin, Rashid und Farida, die alle drei unterschiedliche Wege gehen. Der junge Amin verliebt sich in die geschiedene, einige Jahre ältere Jamila mit zweifelhaften Ruf. Sein Bruder Rashid, der etwa zur selben Zeit zum Studieren nach England aufbricht und dort als Professor sesshaft werden wird, merkt irgendwann wie sehr ihn die Geschichte von seinem Bruder Amin und Jamila auch nach Jahrzehnten noch beschäftigt. Er, der in gewisser Weise selbst ein Abtrünniger ist, weil er seine Heimat verließ, legt rückblickend die Verbindungen offen und erzählt uns die Geschichte von Rehana und Martin sowie Jamila und Amin. Beide Paare versuchten eine Liebe zu leben, die den gesellschaftlichen Normen zuwiderlief - waren also ebenfalls ¿Abtrünnige¿.Gurnah nimmt sich Zeit. Er widmet den wichtigsten Protagonist*innen einzelne Kapitel, in denen die jeweiligen Lebensumstände und Perspektiven deutlich werden. Ich mag Gurnahs Schreibstil sehr. Ob er das Getümmel in der Altstadt, Hassanalis kleinen Laden mit seiner Kundschaft, den Innenhof der Familie mit seinen Kochstellen, den überheblichen, rassistischen Kolonialbeamten, der glaubt, Martin vor Hassanalis Familie retten zu müssen, das Elternhaus von Rashid, Farida und Amin, Spaziergänge am Meer entlang und in der Stadt oder auch Rashids Erlebnisse im fremden England beschreibt, immer vermitteln diese Szenen bildhaft ein Gespür für die Lebensverhältnisse vor Ort und den Alltag der Menschen. Beim Lesen sehe ich Bilder wie in einem Film und kann dadurch sehr gut in die beschriebenen Welten eintauchen.Ich schätze Gurnahs präzise Beobachtungsgabe, mag die fremdsprachigen Begriffe, die in den Text einfließen. Elegant und beiläufig, aber trotzdem eindringlich und niemals wertend zeigt er neben den menschlichen Aspekten immer auch die politische Situation, beschreibt Unruhen und Konflikte und macht die Folgen der Kolonialisierung für die Menschen sichtbar.¿Die Abtrünnigen¿ ist nach ¿Nachleben¿ der zweite Roman, den ich von Gurnah lese und mit Sicherheit nicht mein letzter. Gurnah könnte sogar ein neuer Lieblingsautor werden. Er öffnet Fenster in fremde Welten und ich beende die Lektüre mit dem zufriedenen Gefühl, nicht nur bewegende, authentische Geschichten erzählt bekommen zu haben, sondern auch Neues über koloniale Verstrickungen und die Bevölkerung mit ihren unterschiedlichen kulturellen Wurzeln in Ostafrika erfahren zu haben.