Gletscher schmelzen, Arbeitswelten verschwinden, Ordnungen zerfallen. Verluste bedrängen die westlichen Gegenwartsgesellschaften in großer Zahl und Vielfalt. Sie treiben die Menschen auf die Straße, in die Praxen der Therapeuten und in die Arme von Populisten. Sie setzen den Ton unserer Zeit. Während sich die Formen ihrer Bearbeitung tiefgreifend verändern, scheinen Verlusterfahrungen und Verlustängste immer weiter zu eskalieren. Wie ist das zu erklären? Und was bedeutet es für die Zukunft?
Andreas Reckwitz leistet Pionierarbeit und präsentiert die erste umfassende Analyse der sozialen und kulturellen Strukturen, die unser Verhältnis zum Verlust prägen. Unter dem Banner des Fortschritts, so legt er dar, wird die westliche Moderne schon immer von einer Verlustparadoxie angetrieben: Sie will (und kann) Verlusterfahrungen reduzieren - und potenziert sie zugleich. Dieses fragile Arrangement hatte lange Bestand, doch in der verletzlichen Spätmoderne kollabiert es. Das Fortschrittsnarrativ büßt massiv an Glaubwürdigkeit ein, Verluste lassen sich nicht mehr unsichtbar machen. Das führt zu einer der existenziellen Fragen des 21. Jahrhunderts: Können Gesellschaften modern bleiben und sich zugleich produktiv mit Verlusten auseinandersetzen? Ein wegweisendes Buch.
Besprechung vom 12.10.2024
Die Zukunft verliert ihre Anziehungskraft
Von der Gesellschaft der Singularitäten zu jener der Vulnerabilitäten: Der Soziologe Andreas Reckwitz widmet sich in einer breit angelegten Analyse den Verlusterfahrungen als Rückseite des realen oder beschworenen Fortschritts.
Von Marianna Lieder
Von Marianna Lieder
Im Februar 2020, als Kanzler Olaf Scholz noch nicht Kanzler war, ließ er sich in der "Zeit" zu seinen Lektüren befragen. Die Schriften des Soziologen Andreas Reckwitz hatten es ihm demnach grundsätzlich angetan. Doch ausgerechnet mit "Die Gesellschaft der Singularitäten" konnte der damalige Bundesfinanzminister wenig anfangen. Unter diesem Titel hatte Reckwitz eine umfassende Zeitdiagnose vorgelegt, die über die Grenzen seines Fachs hinaus für anhaltende Diskussionen sorgte. Beschrieben wurde darin ein tiefgreifender sozialer Strukturwandel von einer modernen "Logik des Allgemeinen" zu einer spätmodernen "Logik des Besonderen". Demnach strebe man heute nach dem Einzigartigen und Außergewöhnlichen, das gelte für die Märkte, die Arbeitswelt, die Lebensstile. Als Schrittmacher dieser Entwicklung wurde die "neue Mittelschicht" benannt, gebildet, kosmopolitisch, digitalaffin. Es ging auch um jene, die sich ihrer Deutungsmacht beraubt, ihre Biographien entwertet sahen und den Wandel ablehnten. Davon habe er "schlechte Laune bekommen", meinte Scholz, der geschilderte "Zerfall der Gesellschaft in immer mehr Subgruppen" verheiße nun mal "keine schöne Zukunft".
Da wird das neue Reckwitz-Buch erst recht nicht zur Stimmungsaufhellung im Kanzleramt beitragen. "Verlust", so das im Titel benannte "Grundproblem der Moderne", dem der an der Berliner Humboldt Universität lehrende Soziologe in der bewährten Form einer breit angelegten Epochen- und Gesellschaftsanalyse widmet, die er als Ergänzung zu seinem Theoriebestseller von 2017 verstanden wissen will. In "Die Gesellschaft der Singularitäten", so Reckwitz einleitend, habe er sich auf die "Gewinnerseite des Modernisierungsprozesses" konzentriert (Scholz hat das offenbar anders wahrgenommen). Diesmal soll die Schattenseite kartographiert werden.
Der Fokus liegt nun auf den Opfern, den Katastrophen und blinden Flecken des Modernisierungsgeschehens, das - so der Ausgangsbefund - von einem fundamentalen Widerspruch angetrieben wurde, dem zwischen Fortschrittsidee und Verlusterfahrung: Die Moderne ist mit dem Vorsatz angetreten, die Menschheit in eine hellere, bessere Zukunft zu führen, durch Medizin, Sozialstaat, technische Innovationen. Dem Vorhaben kam regelmäßig die Realität in die Quere, sei es durch Verluste natürlichen Ursprungs (Alter, Tod). Sei es durch "Verlustpotenzierungen", die von der Moderne selbst produziert wurden (Kolonialismus, Totalitarismus, Umweltzerstörung). Dennoch gelang es dem Fortschrittsversprechen fast zwei Jahrhunderte lang, seine Glaubwürdigkeit einigermaßen intakt zu halten. Heute allerdings droht der Verlustgau in Sachen Demokratie, Weltfrieden, Klima. Damit rückt für Reckwitz nichts Geringeres als der "Verlust der Moderne" in den Bereich des Denkmöglichen. Wenn alles schiefläuft, könnte demnächst also ein ganzes Zeitalter kollabieren. Der Frage, wie genau es so weit kommen konnte, wird in drei Großkapiteln nachgegangen.
Nun ist Reckwitz nicht der Erste, der die Moderne als fragiles, durch und durch widersprüchliches Gebilde beschreibt, das den Keim seiner potentiellen Selbstzerstörung von Anbeginn in sich trägt. Das Verdienst dieser hervorragend lesbaren Untersuchung besteht in der suggestiv verschachtelten, gründlichen Systematik, mit der die epochemachende Rolle der "Verlustparadoxie" analysiert und der spätmoderne Strukturwandel dieser Widerspruchsdynamik ausbuchstabiert wird. Dabei geht es erklärtermaßen nicht darum, kulturkritische Diagnosen von Nietzsche bis Adorno fortzuschreiben. Philosophische Moderneskepsis und sonstige Verlustartikulationen interessieren Reckwitz lediglich als soziales Phänomen, oder wie es in konstruktivistisch eingefärbtem Soziologenenglisch heißt: als Praxis des "doing loss", durch welche die Positivitätsversessenheit der Moderne ihr notwendiges Gegengewicht erhielt.
Auf die permanente Konfrontation mit Verlusten und Verlustnarrativen reagierte die Moderne Reckwitz zufolge auf zweifache Weise. Zum einen indem sie Verluste unsichtbar machte ("undoing loss") - etwa durch diskursive Umdeutungen, mit denen Opfer delegitimiert und erlittene Verluste als hinnehmbare, vorübergehende Kollateralschäden relativiert wurden. Zum anderen entstanden in der Moderne vielfältige Formen der "Verlustbearbeitung", um fortschrittshemmende Emotionen berechenbar oder produktiv nutzbar machen zu können. Neben Kunst, Musik, Literatur nennt Reckwitz das Versicherungswesen, den Denkmalschutz, die Psychotherapie. Auch die Politik lässt sich als Feld der Verlustbewirtschaftung beschreiben. Dabei ist es längst nicht mehr nur das konservative Lager, das sich gegen die Unbeständigkeit der Moderne stemmt. Seit dem zwanzigsten Jahrhundert kursieren "progressive Regressionserzählungen", in denen die Aushöhlung ursprünglich linker Errungenschaften und liberaler Freiheitsrechte betrauert wird.
Eingängig illustriert Reckwitz die These vom Zusammenspiel von Verlustinvisibilisierung und Fortschrittsnarrativ am Beispiel der Trente Glorieuses, jener Jahre zwischen 1945 und 1975, als die (industrielle) Moderne in Westeuropa ihren selbst gesetzten Maßstäben endlich so gerecht wurde wie nie zuvor. Es gab jede Menge Wirtschaftswachstum und Technikeuphorie, kaum Arbeitslosigkeit, massenhaft sozialen Aufstieg. Als Kehrseite dieses Booms zeigt Reckwitz eine gewaltige Verdrängungsleistung auf. Im Wirtschaftswunderdeutschland wurde die Schuld des Zweiten Weltkriegs ausgeblendet, ebenso wenig gelangten die Verbrechen des Kolonialismus an die westliche Öffentlichkeit. Man befand sich erstmals in einer Gesellschaft des Massenkonsums, die sich letztmals von den ökologischen Folgen abschirmen konnte. Die Lebenserwartung war deutlich erhöht, zugleich profitierte der Westen noch von einer hohen Geburtenrate.
Auch vor dem Hintergrund dieser fast vollständig verlustvergessenen Ära wird deutlich, worin die qualitative Besonderheit der "spätmodernen Verlusteskalation" besteht, die für Reckwitz die Epoche an den Rand ihre Möglichkeiten bringt. Sehr plausibel scheint die Feststellung, dass die gegenwärtig beklagte Stagnation des sozialen Aufstiegs ohne den Vergleich mit den Trente Glorieuses womöglich nicht ganz so gravierend empfunden werden würde. Einleuchtend auch der Gedanke, dass die Spätmoderne nicht nur von unleugbaren Verlustschüben (Klimawandel, alternde Gesellschaft, Erosion der Demokratie, Gewalteskalationen) heimgesucht wird, sondern sich zudem das grundsätzliche Verhältnis zu Verlusten geändert hat. Sie können heute nicht mehr unsichtbar gemacht werden. An die Stelle des klassisch-modernen doing loss, das dem Fortschrittsversprechen lange nicht ernsthaft gefährlich werden konnte, sei heute eine qualitativ neuartige "Verlustsensibilisierung" getreten, ein gesteigertes Bewusstsein für vergangene, gegenwärtige und künftige Verletzungen, die nicht mehr als Preis für eine längst brüchig gewordene Zukunftsverheißung hingenommen werden. Die Gesellschaft der Singularitäten ist zu einer Gesellschaft der Vulnerabilitäten geworden.
Nebenbei betreibt Reckwitz hier selbst eine interessante Form des doing loss. So geht es in seinem Epochenporträt ums Ganze, um die Moderne als Einheit, mitsamt ihren selbst produzierten Brüchen und Widersprüchen. Damit wird einerseits die Tradition der "großen Erzählungen" aufgegriffen, deren Verlust Jean-François Lyotard bereits im mehrfach beschworenen Schicksalsjahr 1979 konstatierte. Zudem geht Reckwitz mit regelrecht klassisch moderner Abgeklärtheit vor. Seine ausnehmend anregende Darstellung ist weder wertend noch normativ, vom konstatierten spätmodernen Affektüberschuss weist der Autor erfreulich wenig Spuren auf.
Nur auf den allerletzten Seiten lässt Reckwitz sich doch hinreißen und macht ein paar mäßig aussagekräftige Vorschläge, wie die Moderne "repariert" werden könne. Das technokratische Plastikwort "Resilienz" taucht mehrfach auf, alles klingt plötzlich doch noch halbwegs beherrschbar. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Kanzlerlaune dadurch wieder hebt.
Andreas Reckwitz: "Verlust". Ein Grundproblem der Moderne.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 463 S., geb.
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