Angesichts unserer Gegenwart, in der nichts mehr sicher scheint, schildert Anna Katharina Hahn einen Stuttgarter Chor als Spiegel einer ganzen Stadtgesellschaft. Einfühlsam und unerbittlich porträtiert sie in ihrem neuen Roman Frauen aus drei Generationen - in ihren Stärken und Schwächen, ihren Gefühlen, ihrer Sensibilität und ihrer Gnadenlosigkeit.
Endlich wieder offline! Schon vor den Lockdowns war die Probe ihres Frauenchors für Alice, Marie und ihre ältere Freundin Lena der Höhepunkt der Woche. Nachdem sie viel zu lange nur hinter Masken oder gar nicht zusammen singen konnten, erkennen sie deutlich, was sie entbehrt haben. Ihre Freundschaften haben die Pandemie überlebt, allerdings auch ihre Probleme miteinander. Alice, der beruflich fast alles gelingt, leidet darunter, dass Marie nicht mehr mit ihr spricht. Während Lena, eine pensionierte Lektorin, sich über das Altern keine Illusionen macht. Ein offenes Geheimnis ist die Abneigung der meisten Sängerinnen gegen Cora, die in prekären Verhältnissen lebt und den Chor zur Jobsuche nutzt. Als Sophie, eine vereinsamte Studentin, bei den Proben auftaucht, beginnt ein emotionaler Aufruhr. Besonders für Alice: Plötzlich entdeckt sie Gefühle, die sie selbst überraschen.
Besprechung vom 19.09.2024
Alice, die Sängerin
Freundschaft kann ebenso fatal sein wie Liebe: Anna Katharina Hahns Roman "Der Chor"
Alice sagt die Adresse nichts. "Genazinostaffel? In Heslach?" Eigentlich ist der Stuttgarter Stadtplan ihr vertraut wie die Westentasche ihres schwarz-weißen Business-Kostüms. Alice Pogge ist die Personalchefin des über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Luxuskaufhauses und kennt nicht nur die Mitarbeiterschaft, sondern auch die Kundschaft. Mit ungeschriebenen Checklisten kann sie Habitusmerkmale Wohnvierteln zuordnen und umgekehrt; blickt sie vom Dach des Kaufhauses, sieht sie ringsum die vielfältig gestaffelten Binnenmigrationshintergründe einer Aufstiegsgesellschaft, eine kleine Welt, in der Sackgassen und Durchbrüche eng beieinanderliegen.
Alice selbst ist zugezogen und hat sich hochgearbeitet. Ihre Mutter, die sie in Berlin-Moabit allein erzog, versah den ehrenwerten Beruf der Kaltmamsell, der freilich in der späten Wirtschaftswunderzeit seine Frau samt Tochter schon nicht mehr ernährte; zu selten wurden in den Charlottenburger Altbauetagen die Buffettische für endlose Reihen von Platten mit kunstvoll Aufgeschnittenem und liebreich Angerichtetem aufgestellt, sodass Alices Mutter auch putzen gehen musste.
Alice hält das Vorbild ihrer Mutter hoch. Dass sie panisch auf Sauberkeit bedacht ist, belegt nicht den Erfolg ihrer Akkulturation im Schwäbischen, sondern die Hartnäckigkeit der von der Mutter übernommenen Vorsorge gegen den sozialen Absturz. Alice ordnet ihren gesamten Alltag mit dem Terminkalender, und so überfällt sie auch der Putzfimmel zu fixierter Stunde, nämlich exakt eine Stunde vor dem Dienstantritt des Putzmanns. Die Essensreste, deren Beseitigung sie dem dafür doch eigentlich und ordentlich honorierten Bogdan erspart, verraten nicht die Handschrift der Tochter der Schnittchenkönigin von Westberlin. Pizzaschachteln und Imbiss-Boxen türmen sich im ehelichen Gehäuse der kinderlosen Gutverdiener Alice und Fred. Die Adresse des Ehepaars Pogge-Sulzberger wird in den Stammkundenkarteien aller Lieferdienste gespeichert sein.
Da Alice nicht weiß, wo die Genazinostaffel sein soll, gibt sie die Adresse in ihr Navigationssystem ein. Das ist keine Niederlage, sie hat damit noch nicht die Kontrolle über ihr Leben verloren, weshalb sie ja auch jeden Abend daheim auf dem Killesberg ihr Manager-Outfit gegen eine Jogginghose tauschen kann. Navigation ist ihr Metier, beruflich wie privat, das System ist ihr Freund - eine Universalmaschine mit lückenlosem Ortsgedächtnis ist für Alice nur ein anderes Ich. Die Perle unter der Haube des Audi hat allerdings das Handicap, dass sie nicht immer den kürzesten Weg weiß, wie Alice überrascht zur Kenntnis nimmt. "Erstaunlich lange muss sie hinter dem turmgekrönten Altbau des Marienhospitals durch dunkle Einbahnstraßen und enge Wege steuern." Endlich in der Genazinostaffel angekommen, spricht das Navi eine Warnung aus, die es, weil sie nicht befolgt wird, mit dem Perfektionismus der Ingolstädter Werkseinstellung sogleich ungerührt wiederholt: "Wenn möglich, bitte wenden!"
In einem Interview hat Anna Katharina Hahn den Hinweis fallen lassen, "natürlich" sei sie "keine realistische Schriftstellerin". So selbstverständlich, wie sie diese Standortbestimmung klingen lassen möchte, ist sie nicht. Im Interesse an einer Wirklichkeit, die von sozialer Schichtung geformt bleibt, kann Hahn es mit den Gesellen und Gesellinnen aus den Heimschreibvolkshochschulen des neuen klassenstolzen Materialismus spielend aufnehmen, in der Fähigkeit, dieser fundierenden Gewalt auch Gestalt zu geben, erst recht. Und in ihrem neuen, fünften Roman wird wie in ihren früheren Büchern die Handlung ebenso genau datiert, wie sie lokalisiert ist. "Der Chor" spielt in der ersten Hälfte des Jahres 2022, als der letzte Winter der Corona-Pandemie in den ersten Frühling des Ukrainekrieges überging.
Alice und ihre "Chorschwestern" Marie und Lena, aber auch Putzfachkraft Bogdan und Hausmüllproduzent Fred wirken so wirklich wie alle mit Komplexen, Illusionen und Ticks ausgestatteten Hahn-Figuren, wie das Personal unseres täglichen Umgangs, die vertrautermaßen irritierenden Arbeitskollegen und Vereinsbekanntschaften. Einer landläufigen, kunstfremden Vorstellung von Realismus widerspricht dagegen Hahns Spaß daran, die Machart ihrer Erzählung durchscheinen zu lassen, den Leser als Leser anzusprechen. Oder die Romanfigur als Figur.
Wenn möglich, bitte wenden! Hier meldet sich vor dem Aussteigen an der Genazinostaffel vielleicht nicht das Gewissen der Heldin, aber so etwas wie ein auktoriales Über-Ich, das indes seinen urvernünftigen Willen nicht bekommen darf, wenn der Roman seinen Lauf nehmen soll. Alice kann noch umkehren. Und kann es nicht. Mit ihr im Auto sitzt Sophie, eine Novizin im Frauenchor der "Cantarinen", zu der Alice auf den ersten Blick eine schwer ergründliche Zuneigung gefasst hat. Alice drängte Sophie leihweise ihren Mantel auf, den Sophie in der nächsten Probe nicht zurückbrachte, ohne dafür eine rechte Erklärung zu haben. Wenn Alice Sophies Studentinnenbude hinter dem Hospital betritt, wird sie zwar nicht direkt ins Unglück stürzen, aber in Verwicklungen, aus denen sie nicht ohne Schaden hervorgehen wird.
Das aus dem Alltag gegriffene moralische Sujet, dem Anna Katharina Hahn ihre durchgängig geduldige, stellenweise unbehagliche pathologische Aufmerksamkeit zuwendet, ist in diesem Roman die Intensität, wie sie auch in eine Freundschaft schießen kann, die mit den Aufwallungen erotischer Paarbildung nichts zu tun haben soll. In einem Kraftfeld von Rivalitäten gedeiht die Macht dieses Gefühls, die uneingestandene Eifersucht erweist sich als elementare soziale Energie. Es geht also um Projektion und Kompensation. Hahn gruppiert ihre Personen so, dass sich Spiegelbildkonstellationen vervielfältigen und überall Doppelgänger lauern. Alice ist fixiert auf Sophie, weil sie mit Marie gebrochen hat, mit der sie um die Gunst Lenas rivalisiert. Sophie ihrerseits muss den Verrat einer Herzensfreundin verkraften und tut das kreativ, zu kreativ.
So kann man das Beziehungsnetz auflösen, aber solche pragmatische Rationalisierung täuscht über die fatalistische Dynamik der Übertragungsketten hinweg. Der Roman wird aus der Perspektive von Alice erzählt, die genau weiß, was sie tut - und das ist das Unheimliche. Man hat es gerade nicht mit einer unzuverlässigen Erzählinstanz zu tun. Die Managerin sitzt am Steuer und weckt als Reklame-Ikone der Selbstbeherrschung die Sorge des Lesers, der ihr manchmal selbst mit Navi-Stimme in die Parade fahren möchte, dieser Rezensent etwa mit einer Abwandlung seines Lieblingsliedes: Hm, Alice, nimm lieber den Bus!
Das aber ist ganz und gar ausgeschlossen: "Sie hängt an ihrem Audi, fühlt sich geborgen in ihm" und ist erleichtert, als sie Cora, die als Putzfrau aus der Banlieue im Chor als Fremdkörper behandelt wird und nach der Probe mit Plastiktüten aus dem Discounter beladen an der Bushaltestelle des 43ers steht, keinen Lift anbieten muss. Das ist kein schöner Zug, aber so realistisch wie der Käserückstand auf der Pizzapappe.
Der Chor: In drei Hinsichten schlägt das Setting des Romans in der Erzählweise durch. Erstens gibt es unter den Figuren keine Solisten. Stärkung und Trost suchen sie, indem sie ihre Stimmkraft verdoppeln und ihre Stimmfarben vermischen. Der Chor ist der Gegenentwurf zur Gesellschaft der Singularitäten.
Zweitens bestimmt der Turnus der Chorproben den Takt der Handlung. Wie Alice ihren Arbeitstag gemäß den Anweisungen ihrer Assistentin gliedert und nach der Unterbrechung durch die Chorprobe noch einmal aufnimmt, so richtet sie ihr Beziehungsmanagement an den Probentagen aus. Aber wie die unbeirrbare Navigation auf Abwege führt und das kartierte Stadtgebiet zum unbekannten Land wird, so gerät auch die Ordnung der Zeit aus der Spur, weil die Wiederkehr der Termine die Aufmerksamkeit betäubt, sodass sich im Kalender Lücken für Heimlichkeiten auftun, vor oder nach der Probe, auf dem Weg hin oder zurück.
Und drittens artikulieren die Sängerinnen einen vorbegrifflichen Kunstoptimismus, einen instinktiven Glauben daran, dass Geformtes die Chance bewahrt, geteilte Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Das Repertoire der "Cantarinen" besteht aus den Lieblingsliedern der Sängerinnen, so hat es die estnische Chorleiterin eingerichtet. Und so hat Anna Katharina Hahn in ihren Roman Namen und Szenen aus einigen ihrer Lieblingstexte eingewoben, von den Ortspatronen der schwäbischen Romantik bis zu Joseph Roths "Legende vom heiligen Trinker". Das Ganze hat eine ungeheure motivische Dichte, die ihre Wirkung tut, ohne dass man die Anspielungen entschlüsseln muss - wie man sich von einer Melodie erfassen und tragen lassen kann, auch wenn man ihre Herkunft nicht kennt.
Es gibt keine Genazinostaffel in Stuttgart, aber es kann sie nur in Stuttgart geben, weil es nur dort die Staffel gibt, die Sonderform der Straße, die gewaltige Höhenunterschiede Stufe für Stufe überwindet, als Sinnbild der Gleichzeitigkeit von Auf- und Abstieg. Wilhelm Genazino, der Frankfurter Chronist der allerkleinsten Enttäuschungen und der befremdlich tröstlichen Abfindungen, der Flaneur in einer Großstadtwelt ohne jedes Spektakel, als Namensgeber einer solchen jähen Kippfiguration? Da ist Musik drin, da will man doch hin. PATRICK BAHNERS
Anna Katharina Hahn: "Der Chor". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 283 S., geb.
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