»Das ist die eigentliche Lehre aus der deutschen Geschichte: Nicht, dass Deutsche nie wieder Krieg führen dürfen, sondern dass sie eine besondere Verantwortung dafür haben, sich für die Freiheit einzusetzen und dabei auch Risiken einzugehen. « (Aus der Dankesrede von Anne Applebaum zum Friedenspreis 2024)
Besprechung vom 12.10.2024
Das Geheimnis ihrer Millionen
Autokraten leben vor, wie man straflos reich wird: Anne Applebaum will ohne westliche Hybris die regelbasierte Weltordnung retten.
Von Patrick Bahners
Von Patrick Bahners
Ein Bösewicht und ein Held des neuen Buches von Anne Applebaum sind beide Gottesmänner aus Simbabwe. Uebert Angel scheint durch seinen Nachnamen auserwählt für den Beruf, den er im Internet ausübt: "Prophet des letzten Glaubenssystems". Das System ist das Evangelium des Erfolgs, dessen Wirksamkeit der Prophet in eigener Person verbürgt: Er ist der Mann, den "Präsidenten in aller Welt anrufen und um Weisung bitten; die Millionäre und Milliardäre der Welt streiten sich darum, ihn kennenlernen zu dürfen, in der Hoffnung, ein Wort zu hören, das ihr Leben verändert".
Nachdem Applebaum die frohe Botschaft quellenkritisch untersucht hat, bleibt ein historischer Kern übrig. Wenn Angel seinerseits einen Präsidenten anruft, kann es sein, dass dieser das Telefon abhebt, nicht in aller Welt, aber im Präsidentenpalast in Harare. Angel besitzt einen Diplomatenpass und soll für Emmerson Mnangagwa, der 2018 den Staatsgründer Robert Mugabe als Präsident von Simbabwe ablöste, als Kurier und Vermittler tätig sein. Investigativreporter von Al Jazeera brachten den Gesandten im Dienst zweier Herren dazu, vor ihrer Kamera darüber zu sprechen, wie sich in Simbabwe geschürftes Gold unter Umgehung internationaler Sanktionen außer Landes bringen ließ und an wen der Zehnte dafür zu entrichten war. Sie hatten sich als Repräsentanten eines chinesischen Milliardärs ausgegeben.
Ewan Mawarire, Pastor einer Pfingstkirche, verwendete 2016 dasselbe schlichte Verkündigungsmittel wie sein Kollege: Er stellte einen selbst gedrehten Film ins Internet. Der Pfingstler sprach mit lebensgefährlich gelöster Zunge über ein weltliches, in seinen Augen entheiligtes Zeichen: die Flagge seines Vaterlandes. Er stellte die Auslegung des Spektrums der sieben Querstreifen, die in den Schulen gelehrt wird, der Wirklichkeit gegenüber, wie er sie sah. "Es heißt, das Grün steht für die Vegetation und die Ernte. Aber ich sehe keine Ernte in meinem Land." Auch das Uebert Angel besonders teure Element kam vor. Das Gelb stehe für Gold. "Ich weiß nicht, wie viel davon noch übrig ist."
Ewan Mawarire nannte sich nicht Prophet, aber er handelte wie ein Prophet. Seine Botschaft verbreitete sich in Windeseile, dank der sozialen Medien und der Verdoppelung des visuellen Symbols durch die geschriebene Losung #ThisFlag. Mawarire hatte es gewagt, den Staat mit dessen eigenem konventionellen Selbstbild zu konfrontieren. Der Gouverneur der Zentralbank empfing den Pastor, und als er zum Generalstreik aufrief, taten Millionen wie geheißen. Dann schlug die Regierung zurück. Regierungseigene Videobotschaften mit dem Hashtag #OurFlag ernteten keine Resonanz. Aber mit verheerendem Erfolg lancierten die Behörden das Gerücht, dass Mawarire an seiner patriotischen Kampagne verdiene und sich aus dem Ausland bezahlen lasse. War es nicht verdächtig, dass westliche Botschaften seine Videos geteilt hatten? Eine Regierungszeitung berichtete unter Berufung auf "Quellen", dass der Flaggenprotest nur "einer von vielen Goldeseln von Pastor Mawarire" sei. Unter seinen Standesbrüdern soll ein solches Geschäftsgebaren ja vorkommen. Ewan Mawarire ging ins Exil.
Drei Jahre nach Tsitsi Dangarembga, der Filmemacherin und Schriftstellerin, die wegen ihres Kampfes gegen die Korruption in ihrer Heimat von der Justiz in Simbabwe verfolgt wird, zeichnet der Börsenverein des deutschen Buchhandels Anne Applebaum mit dem Friedenspreis aus. Die 1964 geborene, in Washington aufgewachsene Publizistin wurde bekannt als inoffizielle Chefdolmetscherin der neuen liberalen Weltordnung von 1989. Der Originaltitel ihres jüngsten Buches lautet "Autocracy, Inc.". Die inkorporierte Autokratie ist die Selbstherrschaft als Unternehmen, wie es etwa im US-Staat Delaware, wo nicht zu genau nach Eigentumsverhältnissen gefragt wird, ins Handelsregister eingetragen sein könnte.
Autokraten, das ist der Witz des Titels, unterhalten zwei Sorten von Schattenfirmen. Sie betreiben Geldwäsche mit Adressen in den seriösesten Steueroasen der westlichen Welt. Und ihre Staaten operieren selbst wie Firmen jenseits des Zugriffs der Bankenaufsicht. Die Formel "Autocracy, Inc." bezeichnet sowohl das Geschäftsmodell Wladimir Putins als auch den informellen Modus des globalen Zusammenwirkens der illiberalen staatlichen Akteure. Statt von einer Achse der Autokratie, was zu fest und zu mechanisch klingt, hätte die deutsche Fassung besser von einem Konsortium, Kartell oder Netzwerk gesprochen. Die Autokraten erweisen sich als die großen Gewinner der Globalisierung, weil sie alle Sicherungsmechanismen des Zahlungs- und Informationsverkehrs unterlaufen. Stabilität versprechen sie ihren Anhängern, Liquidität ist ihr Operationsmodus. Die Hoffnung, dass das weiche Wasser der sozialen Medien den mächtigen Staatsapparat besiegen werde, hat sich als Illusion entpuppt, wie Mawarires Geschichte belegt. Mugabe und Co. sind im Zweifel flüssiger.
Bringt man Applebaums aus sprechenden Anekdoten montiertes Buch auf den ideenpolitischen Punkt, so soll die "regelbasierte internationale Ordnung" gerettet werden durch eine groß angelegte Rückrufaktion der vereinten Ideenmarktführer von gestern: Den Exzessen der Deregulierung muss der Garaus gemacht werden. Gegen diese Neuformulierung des liberalen Projekts kann erneut der Einwand des Utopischen erhoben werden, weil zur Umsetzung eine Art Weltsteuerpolizei nötig wäre. Aber eine Lektion aus den Debatten über die Arroganz des Westens hat Applebaum gelernt, wie ihre Parabeln von den zwei Pfarrern zeigen. Mit keinem Wort deutet sie an, dass Simbabwe anfälliger sei für den Glauben an falsche Propheten als die Vereinigten Staaten. Will der Westen in der Konkurrenz mit Putin und Xi Jinping bestehen, muss er ohne Paternalismus missionieren.
Anne Applebaum: "Die Achse der Autokraten". Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich
gegenseitig an der Macht halten.
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Siedler Verlag, München 2024. 208 S., geb.
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