Besprechung vom 25.09.2024
Literarischer Deutschlanddiskurs
Auf der Folie eines Buchs von Wolfgang Koeppen: Christoph Peters' Roman "Innerstädtischer Tod"
Ein gewagtes Experiment geht in die letzte Runde: 2022 erschien Christoph Peters' Roman "Der Sandkasten" - eine Variation auf Wolfgang Koeppens Roman "Das Treibhaus" (1953) über den Bonner Politikbetrieb der Fünfzigerjahre, dessen Handlung Peters in die Gegenwart der Corona-Jahre verlegt. Ein Jahr später folgte "Krähen im Park" als Remake von Koeppens berühmten "Tauben im Gras" (1951). Mit "Innerstädtischer Tod" hat sich Peters nun den letzten Band von Koeppens sogenannter "Trilogie des Scheiterns" vorgenommen und den Roman "Der Tod in Rom" (1954) für die Gegenwart adaptiert.
Koeppen gilt in der Germanistik als "verspäteter Modernist" (Sabina Becker), der nach dem Zweiten Weltkrieg an die Tradition des Großstadtromans, an Dos Passos' "Manhattan Transfer" (1925) und Döblins "Berlin Alexanderplatz" (1929), anknüpft. "Tauben im Gras" wird in hart geschnittenen Sequenzen und sich kreuzenden Figurenperspektiven erzählt. So entsteht ein Mosaik der frühen Bundesrepublik als rissiger, aber auch pluraler Gesellschaft. In "Tod in Rom" konzentriert Koeppen dieses fragmentierte Erzählen auf die Darstellung der Familie Pfaffrath, über der die Schatten des Nationalsozialismus liegen: In der Wirtschaftswunderzeit kommt die Familie nach Rom, weil der abtrünnige Sohn, der Avantgarde-Komponist Siegfried, hier eine Symphonie aufführt. Dunkles Zentrum des Romans ist Siegfrieds Onkel, der antisemitische, bullige Gottlieb Judejahn, ein ehemaliger SS-General, der nach dem Krieg unter- und nun in Rom wiederauftaucht. Auch Judejahns Sohn Adolf ist in der Stadt, er will in Abgrenzung von seinem Vater katholischer Priester werden. Die beiden verlorenen Söhne Siegfried und Adolf und ihre vergebliche Flucht in Kunst und Religion bilden das motivische Gerüst von Koeppens Roman.
Peters behält Koeppens Figurenensemble bei, besetzt die Rollen aber mit gegenwärtigen Figuren und relauncht die Kulisse: Nicht in Rom ist sein Plot angesiedelt, sondern im Berlin des Herbstes 2022, gut ein halbes Jahr nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine. Koeppens Siegfried heißt nun Fabian Kolb und debütiert nicht als Komponist, sondern als Objektkünstler, der aus Turngeräten monströse Holz-Eisen-Leder-Skulpturen fertigen lässt, die vage Schlachtfeldassoziationen wecken. Das Buch beginnt am Vortag der Vernissage, wie in Peters' anderen beiden Romanen ausgerechnet am 9. November: ein etwas zu schweres Zeichen, das dem Koeppen-Projekt von Peters die Anmutung eines Deutschlanddiskurses verleihen soll, der aber nebulös bleibt.
Wie Siegfrieds Symphoniekonzert bei Koeppen wird Fabians Ausstellung bei Peters zum Knotenpunkt, der die Mitglieder seiner Familie nach Berlin und in wechselnden Konstellationen zusammenführt. Beim großen Vernissage-Finale treffen sich die Angehörigen vor Fabians verstörenden Kunstobjekten und werden Zeugen einer aktivistischen Protestdemonstration gegen Fabians Galeristen Konrad, der sich in MeToo-Skandale verwickelt hat.
In den Gesprächen dauerpräsent ist Fabians Onkel Hermann Carius - eine Variation auf Koeppens Judejahn und eine Anspielung auf den AfD-Politiker Alexander Gauland: Carius ist alternder Abgeordneter der Neuen Rechten, trägt gern Tweedsakko mit "Forellen-Krawatte" (Pate steht hier Gaulands berühmte Hunde-Krawatte) und verharmlost den Nationalsozialismus als "Fliegendreck". Dieser Judejahn-Carius-Gauland stirbt am Schluss den Tod in Berlin, wenn er einer indischen Kellnerin nachstellt - auch dies ein Koeppen-Motiv: Der Nazi Judejahn war besessen von einer Kassiererin, von der er zugleich vermutete, sie sei Jüdin.
Koeppens Prosa besitzt eine stechende Radikalität, die Peters für seine Auseinandersetzung mit den Kulturkämpfen der Gegenwart neu entfacht. Das fragmentarische Erzählen in kurzen Sequenzen und wechselnden Perspektiven führt zum Zerbröseln moralisch eindeutiger Standpunkte, zum Richtigen im Falschen, weil ein episches Orientierungszentrum fehlt und umherirrende Figuren sich gegenseitig ihre Irrtümer entlarven: Onkel Carius, der sich in eine neurechte Suada nach der nächsten versteigt, hat dennoch einen guten Blick für das Aufgesetzte in der Diskurskunst seines Neffen Fabian, der sich schon allein durch den Aufenthalt in der Bundeshauptstadt der Ukraine nahe fühlt, weil "Berlin so viel weiter im Osten liegt" als seine behütete westdeutsche Herkunft. Der achtsame Künstler Fabian wiederum hinterfragt die Verdrängung sexuellen Begehrens bei seinem allzu ätherischen Cousin, dem katholischen Priester Martin. Und dieser Martin schließlich weiß, warum sein Vater in den neurechten Sumpf abgerutscht ist: Hermann Carius - der in Trennung von seiner Frau lebt, sich aber weiterhin nach ihr sehnt - suche Schutz vor der Verzweiflung in einem "großdeutschen Märchenreich".
"Windhauch, alles ist Windhauch" - so heißt Fabians Kunstausstellung, und dies wäre auch ein guter Titel für Peters' Figurenballett: Keiner der Standpunkte in diesem Roman trägt, sondern wird von der nächsten Figur, die zu Wort kommt, schon wieder verweht. Dennoch ist nicht alles Schweben: Durch einige Zwischentöne des Romans klingen leise auch die Ressentiments des Autors. Die woke Künstlerfigur Fabian spricht durchweg mit Gendersternchen, gendert beflissen sogar in Gedanken und schlägt dabei mitunter grammatische Purzelbäume ("Künstler*innendarsteller*innen"), an denen Peters sich merklich weidet, weil er das Gendern offenkundig nicht mag.
Worin sich Peters' Prosa von Koeppen am stärksten unterscheidet, ist die Häufung realitätsnaher Anspielungen, inklusive der Gefahr schnellen Veraltens. Während Koeppens Judejahn-Figur allenfalls subtile Bezüge zum NS-Verbrecher Martin Bormann aufweist, dessen ältester Sohn auch katholischer Geistlicher war, setzt Peters auf brachiale Wiedererkennungseffekte - nicht nur bei der kaum maskierten Gauland-Figur: Carius erhält unter anderem Anrufe von "Therese von Guntersblum" (Beatrix von Storch) und "Janice Fletscher" (Alice Weidel). Erwähnt wird eine "Model-Show im Fernsehen", moderiert von "Mandy Blum" (Heidi Klum). Solche flauen Gags wirken wie Fremdkörper in dem ironischen, über den Figuren schwebenden, mitunter hinter ihnen verschwindenden Koeppen-Sound, den Peters durchaus beherrscht.
Eine Schreibkrise wie bei Koeppen, der nach der "Trilogie des Scheiterns" nie wieder einen Roman fertigbrachte, ist bei dem produktiven Peters nicht zu erwarten: Zumindest sein Koeppen-Projekt scheint aber an ein Ende gekommen, seine "Trilogie des gegenwärtigen Scheiterns", wie er die drei Romane auf seiner Homepage nennt, ist nun komplett. Es verblüfft, wie geschmeidig sich Koeppens Erzählen modernisieren lässt. Vielleicht hält dies die langsam verblassende literarische Wucht dieses Autors in der Diskussion. MATTHIAS LÖWE
Christoph Peters:
"Innerstädtischer Tod". Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2024. 304 S., geb.
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