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Besprechung vom 09.09.2024
Die Basis unseres Wohlstands
Wie sechs Rohstoffe die Wirtschaftshistorie prägen
Ein flüchtiger Blick auf dieses Buch könnte den Eindruck erwecken, dass hier ein voluminöser Langweiler über Materialwissenschaft vorgelegt wird. Doch schon die Lektüre des Vorwortes macht deutlich, dass es um etwas ganz anderes und höchst Spannendes geht. Der preisgekrönte Londoner Wirtschaftsjournalist Ed Conway präsentiert eine aus dem Englischen gut übersetzte neuartige Abhandlung der Menschheitsgeschichte. Das fundierte Buch schaffte es bis in die Shortlist der von Financial Times und Schroders ausgezeichneten besten Businessbücher des Jahres 2023.
Die in diesem ausgefallenen Buch zur Wirtschaftsgeschichte hervorgehobenen Helden sind nicht historische Gestalten, sondern sechs eigentlich profane, aber für die Zivilisation unverzichtbare Rohstoffe. Hierzu zählen nicht die Edelmetalle. Stattdessen adelt Ed Conway Sand, Eisen, Salz, Öl, Kupfer und Lithium zu magischen Rohstoffen. Die bisher nicht erkannte Magie dieser sechs Substanzen sei darin begründet, dass sie - so seine Grundthese - den Schlüssel zur Geschichte, aber auch zur Zukunft der menschlichen Zivilisation darstellen. Die materielle Welt sei das viel zu wenig beachtete Fundament unseres modernen Alltagslebens. Ohne die globalen Netzwerke der materiellen Welt inklusive der zugehörigen weltumspannenden Lieferketten würden unsere Smartphones nicht funktionieren; unsere Elektroautos hätten keine Batterien. Wir hätten ohne Chlor auch kein sauberes Trinkwasser, keine moderne Landwirtschaft, und lebenswichtige Impfstoffe würden fehlen. Zudem müsste die ökologische Transformation abgesagt werden. Dennoch: Die materielle Welt finde in der Ökonomie kaum Beachtung. Stattdessen drehe sich in den letzten Jahren fast alles nur noch um die schöne neue, durch die Informationstechnologie geprägte immaterielle Welt. Diese Akzentuierung sei völlig falsch, meint Conway, denn die Protagonisten der immateriellen Welt (insbesondere die "glorreichen Sieben" Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla) seien vollends auf die weithin unbekannten Akteure wie Bergbau- und Logistikbetriebe der materiellen Welt angewiesen, um ihre Hightechprodukte überhaupt herstellen und ihre hochtrabenden Geschäftsmodelle umsetzen zu können.
Die Zusammenhänge zwischen den sechs magischen Rohstoffen und der Menschheitsgeschichte hat der Autor klar und überzeugend herausgearbeitet. Dabei kommen auch die gerade in jüngster Zeit rücksichtslose Gier der Menschen beim Abbau der Rohstoffe und der katastrophale Fußabdruck, der dabei hinterlassen wird, nicht zu kurz. Conway prognostiziert, dass in den kommenden Jahrzehnten insbesondere im Globalen Süden deutlich mehr Substanzen aus der Erdkruste gewonnen werden als jemals zuvor. Im Jahr 2019 wurde - so sein Befund - schon mehr Material aus der Erdkruste gegraben und gesprengt als in der gesamten Zeit seit Anbeginn der Menschheit bis 1950! Unser Appetit auf Rohstoffe wachse immer weiter. Gleichwohl seien unsere Erkenntnisse darüber, wie viele Substanzen wir dem Boden entnehmen, überraschend lückenhaft. Der Fußabdruck der Menschheit auf der Erde sei viel größer, als uns klar sei. Beispielsweise werde der schon gewaltige Fußabdruck des Goldschürfens von dem des Abbaus von Eisen und Kupfer bei Weitem in den Schatten gestellt, und dieser sei wiederum winzig im Vergleich zu dem des Abbaus von Sand (neue Mangelsubstanz!) und Gestein. Dies alles vollziehe sich leider außerhalb unseres Blickfeldes.
Das muss sich schleunigst ändern, meint Ed Conway. Er zeigt auf, welche Folgen der schier unersättliche Hunger der Menschen nach den genannten Rohstoffen für die Umwelt hat, und er macht deutlich, dass wir alle durch unsere unreflektierte Nachfrage nach den magischen Rohstoffen zu Komplizen der Umweltzerstörung werden. Conway fordert daher weniger Verbrauch und mehr Wiederverwertung. Er wirbt massiv für eine zirkuläre Wirtschaft und erneuerbare Energie. Als Optimist sieht er hierfür gute Chancen in der näheren Zukunft. Seiner Meinung nach könnten wir heute zum ersten Mal seit der industriellen Revolution in der Lage sein, unseren Rohstoffbedarf intelligent zu decken, ohne noch tiefer in die Erde zu graben und Berge zu sprengen.
Das Buch zeigt im Detail, wie die genannten sechs Rohstoffe der Menschheit geholfen haben, zu überleben und Wohlstand aufzubauen. Sie hätten über das Schicksal von Imperien entschieden, Zivilisationen hervorgebracht, aber auch zerstört, und dies gehe weiter, meint der Autor. Die Geschichte der materiellen Welt sei noch keineswegs zu Ende, denn die derzeitigen geopolitischen Spannungen seien nicht zuletzt Ausdruck des Kampfes um die Kontrolle über die Vorkommen der sechs Rohstoffe.
Das Buch ist sinnvoll gegliedert nach den sechs magischen Rohstoffen, denen jeweils umfangreiche, spannend zu lesende Kapitel mit vielen wertvollen Detailinformationen gewidmet sind. Die Kapitel können nutzbringend auch einzeln gelesen werden.
"Material World" ist ein hochaktuelles, allerdings stellenweise etwas langatmiges Buch, das eine Wissenslücke über unsere Abhängigkeit von sechs Substanzen schließt. Die Lektüre stimmt konstruktiv nachdenklich im Hinblick auf die Frage, was ein jeder von uns tun sollte, um der ungehemmten Ausbeutung unseres Planeten und den damit einhergehenden verheerenden Folgen entgegenzuwirken. ROBERT FIETEN
Ed Conway: Material World. Wie sechs Rohstoffe die Geschichte der Menschheit prägen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2024, 544 Seiten
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