Ein Buch, das die Gemüter spaltet. Das liegt zum einen am Schreibstil. Im Durchschnitt gibt es pro Kapitel genau einen Punkt, sonst vertreten Kommata die Gattung Satzzeichen über ganze Seiten hinweg. Da die meisten Kapitel damit aus einem einzigen langen Satz bestehen, liest sich der Fließtext ebenso atemlos wie die vom kontinuierlichen Datenfluss durchzogene Welt der nahen Zukunft. Das ist vor allem am Anfang recht anstrengend, nach einer Weile lernt man als ausreichend toleranter Leser, die richtigen gedanklichen Atempausen zu setzen, um nicht am Ende eines solchen Satzkapitels den Anfang schon wieder vergessen zu haben.Obwohl als Zukunftsroman beworben, halten sich die technischen Übertreibungen von Ruges schöner neuer Welt in Grenzen. Zahlreiche Technologien wie Datenbrillen und Co. gibt es bereits, und das Weltbild dieser Zukunft ist nur ein leichtes Weiterdenken gegenwärtiger Weltanschauungen entfernt. Denn im Jahr 2055 hat sich die Menschheit unermüdlich selbstoptimiert, nicht nur durch Fitness, auch durch operative Eingriffe (die erste männliche Geburt steht an), man kann ferner das Wetter durch Klimabomben beeinflussen (auch wenn dadurch einmalige Kulturen verlorengehen) und so ziemlich alles außer den AKWs (Anonymen Kritischen Weißen Heterosexuellen) gilt als gesellschaftsfähig.Der Bezug auf die rückwärtsgewandte Schadhaftigkeit von Atomkraftwerken als künftiges Synonym für eine derzeit noch häufig als Mehrheit gesehene Gruppe von Menschen - ein starkes Stück, das manchen Kulturwissenschaftler schlucken lassen dürfte. Die polititische Korrektheit von Nio Schulz' Welt hat zudem Begriffe wie "maskulin" oder "negativ" aus dem offiziellen Wortschatz verbannt, nicht einmal mehr Suchmaschinen wie das mittlerweile kostenpflichtige Google wollen diese Wörter erkennen. Ein Beispiel dafür, welche Macht Online-Technologien gewonnen haben, denn wenn das Internet offiziell alles enthält was es gibt, muss ja alles was nicht darin zu finden ist, ins Reich der Legenden gehören oder wenigstens hochgradig zweifelhaft sein.Achja, "Follower" hat übrigens auch eine Handlung. Die deutet sich allerdings erst nach über einhundert Seiten an, denn längere Zeit hält sich Nio einfach in seinem Hotelzimmer auf und sinniert über die Welt oder führt Skype-Gespräche per Datenbrille. Erst wenn er diesen Schutzraum verlässt, bemerkt das eigenartige Verhalten der anderen Menschen um sich herum, etwa dass ihn eine Frau im eigentlich geschlechtergetrennten Fahrstuhl begegnet und sich fortan äußerst argwöhnisch verhält. Oder war sie vorher ein Mann? Die Grenzen zwischen den offiziell als "er / sie / trans" bezeichneten Geschlechtern sind in dieser Zukunft längst verwischt, obwohl sie an anderen Stellen wiederum auffällig betont werden. Denn der Begriff Feminismus schließt in dieser Welt auch das Recht ein, sich die Kleidung direkt auf die Haut zu drucken und die Beinrasur zu unterlassen.Davon abgelenkt fällt es Schulz offenbar nicht auf, dass er gleichzeitig überwacht wird. Der Leser erfährt dies durch mehrseitige Protokolle, die zwischen einigen Kapiteln auftauchen und die gegen den Antihelden eingeleiteten Maßnahmen dokumentieren. Auch das kann anstrengend sein - vor allem wenn sich diese abgedruckten, fiktiven Dokumente auch mal über zwanzig Seiten erstrecken. Bevor der Zugriff aufgrund errechneter Gefahrenlage jedoch erfolgen kann, steigt Nio Schulz analog zu Dantes Inferno in die Höllenkreise eines unterirdischen Kaufhauses hinab und verschwindet von der Bildfläche.So weit, so krass. Wer sich gerne bewusst mit anspruchsvoller Literatur auseinandersetzt, der wird Ruges Zukunftsvision feiern. Sein Stil veranschaulicht das kontinuierliche Niederprasseln von Informationen auf den User der Welt von morgen, selbst wenn der nur für ihn relevant erscheinende Daten empfängt. Großartige Moralpredigten bleiben aus, das Weiterdenken gegenwärtiger Entwicklungen spricht für sich. Wenn man es dann noch aushält, dass nach zwei Dritteln virtuos die Vorgeschichte von wirklich allem, also vom Urknall bis hin zu Nio Schulz, erzählt wird, dann hat man ein großes Stück Literatur geschafft. Und darf sich danach mit gutem Gewissen wieder leichterer Kost zuwenden.Seitenzahl: 320Format: 13,3 x 21 cm, gebundenVerlag: Rowohlt