Ezra Klein ist politischer Journalist und begleitet seit Jahren in unterschiedlichen Funktionen auf unterschiedlichen Ebenen die amerikanische Politik - regional wie national. Klein ist Mitbegründer des Internetportals "Vox", das sich dem "explanatory journalism, also der erklärenden Berichterstattung verschrieben hat. Oder anders gesagt: Klein weiß, was er tut. Vor allem ist er in der Lage, sich immer wieder neben sich zu stellen und zu erläutern, warum er die Sachlage so und nicht anders interpretiert, weil er selbst selbstverständlich eine Ansicht und politische Neigung hat, die man als Leser immer mitdenken solle. Auch ohne diese metamethodischen Hinweise kommt man recht schnell dahinter, dass Ezra Klein ein demokratischer, eher liberaler Jude ist, zudem Vater und Veganer. Bemerkenswert an der Darstellung Kleins ist allerdings, dass er stets den Eindruck vermittelt, eine erschöpfende Datenlage auf den Tisch zu legen, die ihn von dem Vorwurf der Parteilichkeit weitestgehend freisprechen kann.Ausgangspunkt der Darstellung ist die Frage, ob die Wahl Donald Trumps 2016 ein Versehen gewesen ist, ein Ausrutscher, der sich durch eine Verkettung unglücklicher Umstände "passiert" ist, oder ob da etwa mehr hintersteckt. Von hier aus breitet Klein eine faktengesättigte Analyse seines Landes aus, das seit mindestens 20 Jahren tief gespalten ist und durch das "der tiefe Graben" geht, der dem Buch den Titel gegeben hat. Auslöser für die politischen Verwerfungen macht Klein eine Menge aus - soziographischer Wandel, ökonomische Krisen, Identitätsprobleme, strukturelle Schieflagen. Immer wieder sind es einzelne Ereignisse und Personen, an den Klein Wegpunkte markieren und Abzweigungen festmachen kann, etwa als Präsident Reagan das Gebot ausgewogener Berichterstattung für die Presse aufhebt - das erst machte die tendenziöse "Lügenpresse" à la Fox News, Breitbart & Co. Möglich - oder die verhängnisvolle Modifikation der Filibuster-Regel, deren Anwendung es der Senatsmehrheit ermöglicht, sogar den Beginn parlamentarischer Debatten zu verhindern - nicht nur den Ausgang per Abstimmung. Auch die Gesetze, die Spenden an Parteien neu regelten, haben einen ähnlich verheerenden Einfluss gehabt.Zwei Ansätze sind besonders überzeugend, um die Zerrissenheit des Landes zu erklären: Zum einen der psychologische Zugang zum Einzelnen, zum anderen die Auseinandersetzung mit dem Zweiparteiensystem.Klein zitiert jede Menge psychologischer und soziologischer Studien zu Gruppen verhalten, zu Interessenverschiebungen, zu Vereinzelungs- oder Abstiegsängsten, die deutlich machen, warum die Amerikaner für die Polarisierung ihrer politischen Einstellungen so anfällig sind. Die Studien belegen, wie Rollen bzw. Identitäten sich in den Vordergrund drängen und radikalisieren - nicht nur als Fan einer bestimmten Sportmannschaft oder als Hundehalter, sondern fundamentale Wesensmerkmale wie Mitglied einer bestimmten Rasse, sozialen Schicht oder Inhaber bestimmter rechtlicher Privilegien. Interessanterweise sind die wünschenswerten gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 70 Jahre, in denen die USA eigentlich mehr Gleichheit geschaffen heben etwa durch die Aufhebung der rassistischen Gesetze zur Unterdrückung Farbiger, gleichzeitig Angsttreiber bei denen, die sich in ihren gekannten Freiräumen eingeengt fühlen. Gefühlte Herabsetzung ist hier ein >Schlüssel zum Verständnis der Hinwendung zu politischen Scharfmachern, die eine Rückkehr in die heile Welt versprechen. "Make America Great Again" ist ein Schlachtruf für jene, die unter dem Eindruck stehen, die modernen Entwicklungen hätten sie abgehängt. In dem Augenblick, in dem demokratische Politiker weiter an der Gleichheitsschraube drehen - Spracheregelungen immer wieder auftretende Empörungswellen in den sozialen Medien - werden gleichzeitig auf der Gegenseite Abwehrmechanismen aufgewertet. Polarisierung beginnt und wird verstärkt. Klein zeigt eindrucksvoll, wie sich nach dem kybernetischen Prinzip - je mehr, desto mehr - die Polarisierung selbst bedient und anwächst, sei es durch politische Scharfmacher, sei es durch eine entfesselte Presse, sei es durch Parteimanöver bis in den Supreme Court. Beängstigend daran ist, dass sich hieraus eigentlich kein Ausweg finden ließe außer durch Selbstbeschränkung der Wähler im Kleinen und der Parteirepräsentanten (das sind nicht wirklich Politiker) im Großen. Das wird wohl nicht geschehen, ehe das System implodiert. Klein selbst gibt in seinem letzten Kapitel auch nur unbefriedigende Analyseansätze zur Lösung des Dilemmas.Die zweite Ursache liegt im Zweiparteiensystem, das ja in seiner Grundkonstellation schon Polarisierung hervorrufen kann. Dass sich diese erst jüngst eingestellt hat, verblüfft, aber hier zeigt Klein sehr anschaulich, wie die Parteiidentitäten bis vor etwa 30 Jahren deutlich überlagert waren von regionalen Identitäten: Die Dixie-Demokraten des Südens haben im Zweifel ihren eigenen Präsidenten auflaufen lassen, wenn es gegen die Interessen der Südstaaten ging. Die Republikaner des mittleren Westens waren selbstredend für ein Krankenversicherungssystem für alle, weil es ihrer regionalen Klientel zugutekam. Wie hier die Identitätstektonik durch Medien und Parteimänöver, durch Migration und ökonomische Entwicklungen in Verschiebung geriet, erläutert Klein auch historisch. Für mich besonders interessant der Erklärungsansatz, dass in einem Zweiparteiensystem die Minderheit, wenn sie einer besonders großen Mehrheit gegenübersteht, zu mehr Kompromissen bereit sein muss, eine Mehrheit hingegen zu mehr Kompromissen bereit sein kann und darf. Erst heutzutage, wo die jeweilige parlamentarische Mehrheit knapp geworden ist und auch auffällig häufig wechselt, stehen die Reihen geschlossen und werden Zugeständnisse nicht mehr gemacht. Überzeugend - und dramatisch. Denn was ist daraus der Ausweg?Klein widmet der Frage, ob die USA überhaupt demokratisch sind, viele Seiten, und verneint angesichts vieler Phänomene die Antwort. Dass etwa demokratische Präsidentschaftsbewerber systemisch in landesweiten Wahlen an Wahlmännerstimmen unterliegen, obwohl sie die deutliche Mehrheit der Wählerstimmen errungen haben, ist ein solches Phänomen. Auch die parteipolitische Gewissensprüfung, ja ihr parteipolitischer Auftrag für Richter, die ja eigentlich neutral das Gesetz und die Verfassung schützen sollten, gehört dazu oder die demokratiefeindlichen Zuschnitte von Wahlbezirken.Ezra Kleins Analysen sind fast immer treffend, scharf und überzeugend. Seine Lösungsansätze - und zu mehr ringt er sich auch nicht durch - sind verhalten und eher besorgniserregend schwächlich. Enttäuschend ist, dass er eigentlich zur Fundamentalkritik des Systems USA nicht bereit ist, obwohl er nachweist, das die USA ihre eigene präsidiale Verfassung niemals und nirgendwo installiert haben, wo sie politische Umstürze in Richtung Demokratie herbeigeführt haben. Einen Blick in europäische Mehrparteiensysteme quittiert er mit der unterkomplexen Feststellung, die hätten ja auch massive Probleme, und beschäftigt sich nicht weiter mit dieser verfassungsmäßigen Alternative zum System USA. Vereinfacht gesagt schriebt Ezra Klein die brillante Analyse eines maroden Systems und resümiert: "weiter so, nur netter." Das kostet ihn in meiner Beurteilung den fünften Stern, auch wenn "Der tiefe Graben" das klügste ist, was ich über die USA und Trump gelesen habe.