Vor über 20 Jahren war es mir vergönnt, Fred Schwarz, einen Holocaust-Überlebenden und als solcher Autor der Autobiografie "Züge auf falschem Gleis" (ebenfalls sehr lesenswert!), kennenlernen zu dürfen, wobei diese Begegnung auch heute noch in mir widerhallt, zumal er sehr, sehr offen von seinen Erfahrungen berichtete. Auch Fred Schwarz war letztlich nach Auschwitz-Birkenau gebracht worden und nachdem ich seine Autobiografie nun auch schon kannte und seit unserem Aufeinandertreffen tatsächlich bereits wiederholt gelesen habe, war mir damit ja bereits eine männliche Perspektive vertraut und da war ich nun, auch völlig unabhängig des Gedenktags zur Befreiung Auschwitz` , doch neugierig, wie ein weibliches Opfer die damaligen Geschehnisse und Verhältnisse im Lager, eben grad auch in den Baracken, in denen die Frauen untergebracht waren, aus eben seiner Sicht schildern würde.
An "Rückkehr nach Birkenau" hat mich zunächst der doch eher geringe Umfang verblüfft; als mein eReader mir prompt deutlich unter einer Stunde voraussichtliche Lesezeit anzeigte, überlegte ich schon, ob mein eBook womöglich nur unvollständig sei - ich bin zwar durchaus in Schnellleser, aber die Anzeige erschien mir da zunächst doch seltsam. Sie war allerdings korrekt.
Im Vergleich war "Züge auf falschem Gleis" da doch ein ziemlicher Schinken gewesen, aber wie gesagt: das Erscheinen jener Autobiografie ist inzwischen knapp über 20 Jahre her; Fred Schwarz dürfte kaum älter und auch kaum jünger als Ginette Kolinka gewesen sein, als er und vermutlich eben auch sie in Birkenau interniert waren; und mir ist aufgefallen, dass Ginette Kolinka an mehreren Stellen erwähnte, dass sie an dieses oder jenes keine Erinnerung mehr habe, während Fred Schwarz in seinem Buch generell sehr detailliert berichtete. Da habe ich dann nun doch überlegt, ob dieser Unterschied in der vergangenen Zeit begründet liegt, ob Frau Kolinka Ende der 90er eben auch noch mehr von damals im Bewusstsein hatte, oder ob sich bei ihr nun generell längst eine Art verdrängender Schutzmechanismus ausgebildet hatte, der sie sich gewisse Traumata nicht weiter ins Gedächtnis rufen ließ.
Im Falle von "Rückkehr nach Birkenau" fand ich den Aufbau nun allerdings leicht sonderlich; Ginette Kolinkas Bericht ist achronologisch: Zu Beginn des Büchleins befindet sie sich bereits in Gefangenschaft und auf dem Weg ins KZ (auch wenn ihr das erst später bewusst wird), erst später gibt es einen relativ abrupten Zeitsprung zurück zum Zeitpunkt der Verhaftung, der so plötzlich kam, dass ich kurz verdattert war, wieso sie plötzlich so einfach aus dem Lager entlassen worden sein sollte, ehe ich eben realisierte, dass ich grad von der ursprünglichen Verhaftung las und auch die Zeit nach der Befreiung wird eher beiläufig; Vieles erfährt man eher zwischen den Zeilen; erwähnt. Letztlich wird nur auf den Fakt, dass sie sich nach Jahrzehnten bereiterklärt hat, Schüler zur heutigen Gedenkstätte zu begleiten, genauer hingewiesen - da sie diesen ersten Besuch als völlig surreal empfand und sich immer noch mit der gegenwärtigen Situation schwertut, da das Gelände heute so "sauber und still" sei, dass das so klar nicht das Auschwitz sei, das sie erlebt hatte, und was dereinst völlig isoliert und abgeschottet da lag, grenzte nun an ein Wohngebiet, in dem Kinder fröhlich spielten. Das fand ich einen sehr wichtigen Punkt: Unsere späteren Generationen sind nun häufig völlig erschüttert, wenn wir nur schon die in Gedenkstätten umgewandelten Konzentrations- und Arbeitslager besuchen, die uns das Grauen verdeutlichen sollen, ohne dass sie uns tatsächlich auch nur annähernd das damalige Martyrium der Inhaftierten widerspiegeln können¿
"Rückkehr nach Birkenau" als Haupttitel ist angesichts des Inhalts eher ein wenig verfehlt; tatsächlich konzentriert sich die Geschichte sehr stark auf Ginette Kolinkas Leben in Birkenau, da ist der Untertitel "Wie ich überlebt habe" weitaus treffender und noch passender wäre wohl nur noch "Dass ich das überlebt habe!"
Natürlich ist dieser persönliche Erfahrungsbericht zutiefst erschütternd, wer würde angesichts der Thematik auch Anderes erwartet haben? Generell fand ich diese weibliche Perspektive nun auch eine hervorragende Ergänzung zur männlichen Perspektive, die Fred Schwarz mir bereits geboten hatte; bestimmt werde ich auch "Rückkehr nach Birkenau", wider das Vergessen, noch ein ums andere Mal lesen und ich gebe ehrlich zu: So manches Mal war ich auch froh, wenn Ginette Kolinka einräumte, sie könne sich an bestimmte Begebenheiten nicht weiter erinnern, wenn eine solche Schilderung ganz bestimmt alles Andere als erleichternd gewesen wäre.
Letztlich ziehe ich einen Stern in der Gesamtwertung ab, da mich zwischendrin eben der zeitliche Ablauf doch kurz sehr irritiert hat, würde diese Lektüre aber definitiv dennoch jedem dringend ans Herz legen!