Besprechung vom 02.11.2024
So eklig sind diese Zucchinibratlinge doch gar nicht
Die asymmetrische Freundschaft mündet in einer Gewaltspirale: Lana Lux' Roman "Geordnete Verhältnisse"
Als Philipp die zehn Kerzen auf seiner "halb gefrorenen Geburtstagstorte" auspustet, wünscht er sich wie schon vorletztes und letztes Jahr einen besten Freund. Der Roman "Geordnete Verhältnisse" von Lana Lux beginnt mit dieser gleichsam tragischen wie komischen Szene, die sich im Ruhrgebiet der Neunzigerjahre ereignet und den Ton für das Buch setzt. Der Geburtstagswunsch des Kindes wird sich erfüllen, ein neues Mädchen kommt in die Klasse: Faina aus der Ukraine - wobei Philipp und die Lehrerin meinen, sie komme aus Russland, da sie offenkundig den Unterschied zwischen beiden Ländern nicht kennen.
Die in Berlin lebende Romanautorin Lana Lux stammt selbst aus der Ukraine. Sie wurde 1986 in der im Osten des damals noch sowjetischen Landes gelegenen Industriestadt Dnipropetrowsk geboren, die im Zuge der Dekommunisierungspolitik in Dnipro umbenannt wurde. Im Alter von zehn Jahren zog sie als jüdischer Kontingentflüchtling mit ihren Eltern ins Ruhrgebiet. 2017 erschien Lux' Debüt "Kukolka", drei Jahre später ihr zweiter Roman "Jägerin und Sammlerin". Dort schildert sie bewegende Geschichten von Frauen, die wie sie aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sind. Es geht um Diskriminierung, Gewalt, Prostitution, Armut, psychische Erkrankungen. Aus diesem düsteren, von Leid und Grausamkeit am Rand der Gesellschaft geprägten Material gestaltet Lux ihre fiktiven, aber überaus realistischen Geschichten.
In "Geordnete Verhältnisse" lässt die Autorin nun die Freundschaft zwischen den Schulfreunden Philipp und Faina mit der Zeit in zwanghafte Fixierung übergehen und am Ende gar in Gewalt umschlagen. Philipp liebt Pflanzen und Ordnung, doch seine Ordnungsliebe verkehrt sich in Barbarei. Es ist eine fesselnde Geschichte über eine desaströs dysfunktionale Beziehung, die man bis zur letzten Seite mit Spannung verfolgt. Der Roman liest sich als Auseinandersetzung mit Gewalt in ihren verschiedenen Ausprägungen, sei sie physisch, psychisch, sprachlich, familiär oder gar im Rahmen einer Freundschaft angesiedelt.
Faina, das Mädchen, das mit stark russischem Akzent spricht, und Philipp, der Junge mit der Alkoholikermutter, der sich noch immer einnässt und die dritte Klasse wiederholen muss, lernen sich auf dem Pausenhof kennen. Beide sind Außenseiter. Mit ihren roten Haaren sehen sie wie Geschwister aus. Diese Charaktere und ihre Beziehung werden von Lux mit viel Empathie, Nuancen und reichlich Humor gezeichnet. So öffnet Faina bei ihrer ersten Begegnung ihren Adibas-Rucksack - eine Fälschung der Sportmarke - und bietet dem deutschen Jungen Oladuschki, osteuropäische Eierkuchen, aus einer abgeschnittenen Apfelsaftpackung, die ihr als Vesperdose dient, an. Philipp findet Fainas Essen und Habitus befremdlich. "In Erwartung von etwas Ekligem" beißt er in einen der Oladuschki, ist dann aber überrascht, dass sie "fast lecker" sind, "im Grunde Zucchinibratlinge".
Die Freundschaft der Kinder ist freilich asymmetrisch. Philipp, aus dessen Sicht der erste Teil des Romans erzählt ist, korrigiert Fainas Fehler im Deutschen. Er möchte ihr Verhalten an deutsche Standards angleichen, damit sie nicht mehr als Fremde in Erscheinung tritt. Das ukrainische Mädchen ist für den Jungen Objekt des Begehrens und Kuriosum zugleich, wirkliches Interesse an ihrer Geschichte bringt er allerdings nicht auf. Faina nimmt seine Ratschläge bereitwillig an, ordnet sich unter, wie sie es vom Umgang mit ihren Eltern kennt. Sie verliert ihren Akzent, wird immer angepasster und cooler, schließlich sogar cooler als Philipp. Als sie Anfang zwanzig sind, bricht die Freundschaft nach einem Streit ab.
Im zweiten Romanteil wechselt die Perspektive zu Faina. Es sind ein paar Jahre verstrichen, die Protagonistin ist in einer verzweifelten Lage. Sie hat ihr Studium abgebrochen und ist ungewollt schwanger geworden. Sie wendet sich verzweifelt an Philipp, der mit Investments zu viel Geld gekommen ist. Er zeigt sich großzügig, will Faina unterstützen und sich mit ihr die Verantwortung für das Kind nach dem modischen Konzept des Ko-Parentings teilen. Doch nach der Geburt verwandelt sich die einstige Freundschaft in eine Falle für Faina. Philipp kann seine Aggressionen nicht im Zaum halten, alles an Faina bringt ihn aus der Fassung, jede noch so kleine Abweichung von seinen akribischen Vorstellungen des gemeinsamen Zusammenlebens. Aus Frust darüber schlägt er zu. Das erschütternde Ende wird kapitel- und zum Schluss gar abschnittsweise wechselnd aus der Sicht von Opfer und Täter beschrieben.
Die immer schneller werdenden Perspektivwechsel sorgen für eine ungeheure Dynamik, die schließlich in eine Katastrophe mündet. Und die Autorin konstruiert die Handlung sprachlich eloquent so, dass die Gewaltspirale durch zahlreiche subtile Anzeichen ihren Lauf nimmt. Absehbar ist sie nicht. Und doch von Beginn an so angelegt. YELIZAVETA LANDENBERGER
Lana Lux: "Geordnete Verhältnisse". Roman.
Hanser Berlin, München 2024. 288 S., geb.
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