Der kleine Ort Reifenstein bot mit seinen schlichten Häusern und den schmucklosen öffentlichen Bauten keine Sehenswürdigkeit. Daß man ihn trotzdem so gern besuchte, verdankte er den schönen Wäldern, die bis an die Stadt heranreichten und sie an drei Seiten umsäumten. Stundenlang konnte man hindurchschreiten und die würzige Waldluft einatmen. In den letzten Jahren erschienen daher in Reifenstein immer mehr Sommerfrischler, die hier Erholung suchten und fanden.
In der Nähe der Stadt, etwa fünfundzwanzig Minuten von dem letzten Gebäude entfernt, lag die Oberförsterei Tannhausen. Ihr unterstanden verschiedene Forstbezirke, über die jeweils ein Förster zu wachen hatte. Diese kleinen Forsthäuser, die in dem großen Forst verstreut lagen, bildeten Ausflugspunkte für die Reifensteiner und die Gäste.
Die Oberförsterei, ein hübsches, weißes Gebäude mit großen Fenstern, lag in einem langgestreckten Garten, der sorgsame Pflege verriet. Die Bewohner von Reifenstein wußten, daß die Gattin des Oberförsters nicht nur eine gute Hausfrau, sondern auch eine vorzügliche Gärtnerin war, die es verstand, ihr Hauswesen und all ihren Besitz in bester Ordnung zu halten. Auch Oberförster Uhde galt als tüchtiger, gerechter und liebenswürdiger Herr, der von seinen Beamten sowie seinen Freunden und Bekannten sehr geschätzt wurde. Manch begehrlicher Blick der vorübergehenden Sommergäste flog in den prachtvollen Garten mit den vielen Obstbäumen, von denen die roten Kirschen, die prächtigen Birnen, die Pfirsiche und Pflaumen lachten. So war es nicht selten, daß dieser oder jener stehenblieb und der fröhlichen Schar zuschaute, die sich auf dem weiten Rasenplatze tummelte. Alle, welche die Familie des Oberförsters nicht so genau kannten, wollten es kaum glauben, daß jenes junge Mädchen mit den flatternden Zöpfen die siebzehnjährige Tochter Stefanie war, denn bubenhaft sprang sie neben dem großen Jagdhunde über die Einfassung der Beete, um im nächsten Augenblick auf einen der Bäume zu klettern und sich dort an den Früchten gütlich zu tun.
Frau Uhde hatte schon manchmal ihrer Siebzehnjährigen ernstlich ins Gewissen geredet. Wenn Steffy wollte, konnte sie sehr zurückhaltend und liebenswürdig sein, wenn sie sich aber unbeobachtet glaubte, vergaß sie vollkommen ihr Alter und nahm es in allem mit den Brüdern auf. Dann wurden die gesteckten Zöpfe wieder gelöst, denn Steffy fand es fürchterlich, eine so schwere Last auf dem Kopfe zu tragen. Trieb sie es einmal gar zu arg, drohte der Vater mit ...