Ich bin ganz hingerissen von diesem großartigen Roman über die sogenannte Italienkrankheit, die ganze Familien und Dörfer im ländlichen Raum in Rumänien zerstört. Worum geht es dabei? Durch Armut und mangelnde Perspektiven müssen rumänische Eltern ganzjährig irgendwo anders im EU-Ausland arbeiten und somit ihre Kinder sich selbst überlassen, beziehungsweise bei den Großeltern, anderen Verwandten oder Kinderheimen abladen. Dabei wählen sehr viele als Destination Italien, weil es dort durch die Ähnlichkeit der Sprache viel einfacher ist, Fuß zu fassen. Die Jobs sind natürlich meist sehr prekär und auslaugend: für Frauen in der 24 Stunden-Pflege oder Kinderbetreuung, sehr oft auch nicht angemeldet, für Männer in der Gastro oder als Lastwagenfahrer bei einer Spedition quer durch Europa.Die vom Autor präsentierte Familie, die wundervoll sensibel beschrieben wird, war ehemals sehr glücklich in einem kleinen Dorf im ländlichen Raum, konnte auch meist für ihr Auskommen sorgen, bis der Vater nach dem EU-Beitritt arbeitslos wurde und nur noch saufend und resignierend auf dem Sofa saß. Auch Mutter Daniela verlor schon vor einiger Zeit ihren Job und trifft eines Tages eine einsame, folgenschwere Entscheidung, die eigentlich ihren zwei Kindern eine erfolgreiche Zukunft ermöglichen soll, aber die ganze Familie in die Dysfunktionalität treibt. Sie verlässt ohne irgendeine Absprache in einer Nacht und Nebel-Aktion heimlich ihre Familie, um zum Arbeiten nach Italien aufzubrechen. Die Großeltern kümmern sich zwar ein bisschen um die Kinder, aber letztendlich bleibt die gesamte Verantwortung an der älteren Tochter Angelica hängen, die mit dem alkoholkranken Versagervater und mit ihrem noch sehr kleinen Bruder völlig überfordert ist. Als der Vater die Familie auch noch verlässt, weil er doch noch einen Job als Lastwagenfahrer bekommt, sind die Kinder völlig entwurzelt und wütend auf die Mutter. Geld ist nun zwar ausreichend da, aber Liebe, Geborgenheit und Verbindung fehlen komplett.Im ersten Teil wird der schrittweise Zusammenbruch des Familienverbandes aus der Sicht des kleinen Jungen Manuel geschildert, der ordentlich rebelliert, weil er sich so unverstandenen und alleingelassen fühlt, mit der Mutter so gut wie gar nicht mehr am Telefon redet, den Vater verachtet und sich von Schwester Angelica bevormundet fühlt, die nun seiner Meinung nach unberechtigt die Rolle des Familienvorstandes und des Erziehungsberechtigten an sich gerissen hat. Dass das nicht gut gehen kann, ist klar, Manuel rutscht nach Jahren als Teenager völlig in der teuren Privatschule, die sich die Familie nun leisten kann, ab, wird rausgeschmissen, gammelt zu Hause herum und findet zwischenzeitlich zwar wieder ein bisschen Halt beim Großvater, aber als er stirbt, passiert die Katastrophe. Manuel fällt nach einem ungeklärten Mopedunfall sehr lange in ein Wachkoma.Im zweiten Abschnitt der Geschichte erfahren wir die sehr interessante Sicht der Mutter, die in Italien alles stehen und liegen lässt, ans Krankenbett ihres Sohnes eilt und ihm während des Komas keinen Tag mehr von der Seite weicht. In Rückblenden erzählt sie ihrem katatonisch im Bett liegenden Sohn, wie schlecht es ihr meist in Italien ergangen ist, wie sie ohne Freizeit und ohne sich etwas zu gönnen am Rande des Burnouts demente Menschen gepflegt und Kinder betreut hat, teilweise ohne vertragliche und soziale Absicherung. Sie rechtfertigt ihre Entscheidung, ihre Intention, den Kindern eine Zukunft durch Geld und Ausbildung zu ermöglichen und gibt auch Einblick darauf, wie sie die Familienkonflikte, die Entfremdung und ihre Ohnmacht aus der Ferne wahrgenommen hat. Auch die momentane Verzweiflung über den Zustand des Sohnes, das Ausharren am Krankenbett, die Zermürbung, die Depression und letztendlich die Hoffnung werden gut geschildert. Indessen die Schwester Angelica, von ihrer Verantwortung befreit, ihr Studium abschließen.In Teil drei haben wir nun die Sichten aller relevanten Familienmitglieder komplett. Als Manuel aus dem Koma aufwacht, erfahren wir den Standpunkt von Angelica bezüglich des Familiendramas. Auch sie reflektiert ihre Vergangenheit, ihre Überforderung und die Wut auf Mutter und Vater. Gleichzeitig zeigt der Plot in der Gegenwart endlich eine positive versöhnliche Zukunft für alle.Dramaturgisch ist das ganz großes Kino, drei konsistente Teile, drei Blickwinkel auf ein Familiendrama - der Autor nennt es auch sehr treffend dreistimmigen Familienroman - und trotzdem wird nicht ständig die Perspektive in kleinteiligen Schnipseln verwirrend gewechselt, sondern in einem Guss erzählt, die Vergangenheit wird immer in Gesprächen und Erzählungen reflektiert, aber auch die Handlung in der Gegenwart entwickelt sich ständig weiter. Das ist sensationell konzipiert.Bitte auch unbedingt die Nachbemerkung des Autors lesen, der darlegt, warum er sich dieses Themas angenommen hat.Anfangs wollte ich über eine Frau schreiben, die eine feste Arbeit sucht und, weil sie die nur im Ausland finden kann, ihre Familie und ihr Land verlässt. [...]Doch nachdem ich in Rumänien die Schulen und Einrichtungen für die zurückgelassenen Kinder und Jugendlichen gesehen habe - die "Eurowaisen" oder "Home-Alone Children" -, genügte mir das nicht mehr. Da es sich bei den Migrantinnen vorwiegend um Mütter handelt, sind das letzte Glied in der Kette natürlich die Kinder jener Mütter [...]In meiner Geschichte sollten auch die Kinder eine Hauptrolle spielen. So ist ein dreistimmiger Familienroman entstanden, in dem jedes Mitglied seine eigenen Entscheidungen trifft, aber auch mit denen der anderen klarkommen muss [...]Den ausgewanderten Frauen gelingt es zwar meist, die wirtschaftliche Lage der Familie zu verbessern, doch der Preis, den sie dafür auf emotionaler Ebene zahlen, ist hoch: weil das Fortgehen die eigene Identität verändert und vor allem weil es Mütter und Kinder einander entfremdet. [...]In den Diagnosen osteuropäischer Psychiater hat der gehäuft auftretende Burnout bei einstigen Haushaltshilfen bereits einen eigenen Namen, man bezeichnet ihn als "Italienkrankheit" oder "Italiensyndrom".Fazit:Buchstoffhöhepunkt! An dem Roman gibt es gar nix zu kritisieren und ich habe plötzlich einen italienischen Lieblingsautor, von dem ich sicher noch viele andere Romane lesen werde.