Besprechung vom 18.09.2024
Mit Metaphern kann man kein ganzes Leben verbringen
Marica Bodrozics Entwicklungsroman "Das Herzflorett" erzählt die Emanzipationsgeschichte einer jungen Migrantin
Von der Herzegowina nach Hessen ist es weit. Das weiß das Mädchen Pepsi, deren Eltern als Putzfrau und Bauarbeiter in einer Stadt im Taunus schuften und die Tochter in der Heimat zurückgelassen haben, sie von Tante zu Tante schieben. Nur selten kommen die Eltern heim, um nach Pepsi und ihrer Schwester zu sehen, bis diese die Mutter bittet, mit nach Deutschland kommen zu dürfen. In der Einzimmerwohnung der Familie geht es aber kaum besser zu: Der Vater fängt schon am Morgen mit dem Schnapstrinken an, die Mutter vertritt die Überzeugung, dass der Mensch nicht für Zärtlichkeit in die Welt komme.
Weit ist der Weg in der Regel auch für jene, die ihr Herkunftsmilieu verlassen möchten. Rau und grausam geht es in der Familie zu, und das Mädchen Pepsi, dessen Geschichte die 1973 im jugoslawischen Zadravje geborene Marica Bodrozic in ihrem fünften Roman erzählt, muss sich wappnen gegen Enge, Kälte und Lieblosigkeit um sie herum. Die Bücher und ihre Phantasie sind die Gegenmittel. Wenn der Vater die Tochter quält und sie mit nackten Knien so lange auf Reis knien lässt, bis die Körner in den Körper eindringen, beseelt Pepsi in einer Art Übersprungshandlung die Dinge, die sie umgeben: "Später wird die Kredenz, die oben in der Mitte kleine Schiebefenster hat, sie immer dann wie ein Mensch anschauen", heißt es und weiter: "Sie merkt sich alles, was Pepsis Vater macht und was ihre Mutter nicht sagt und was ihre Mutter nicht macht."
"Das Herzflorett" erzählt in sieben Kapiteln und über eine Zeitspanne von zehn Jahren die Geschichte eines migrantischen Mädchens, das zur jungen Frau wird und sich, nicht zuletzt durch eine Buchhändlerlehre und durch die Hilfe guter Freunde, von einer Familie emanzipiert; am Ende steht der Aufbruch in die Stadt Frankfurt am Main, in die Pepsi flieht, in der sie hofft, ihren Traum vom Studieren gegen den Willen der Eltern verwirklichen zu können. Sie geht im Streit, begleitet von den Büchern, von denen ihr jedes ein "Lebensgässchen" ist. Während Pepsi sich allmählich von ihrer Familie und ihrer Herkunft emanzipiert, ereignet sich das Reaktorunglück von Tschernobyl, bricht der Krieg in Jugoslawien aus.
Auf der Handlungsebene bietet Marica Bodrozics Roman erheblichen Zündstoff: Der Sprachwechsel eines Kindes, der väterliche Alkoholismus, der harte Alltag der Eltern als Arbeitsmigranten, die Verheerungen aufgrund der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl und des Jugoslawienkriegs, aufkeimender Rechtsextremismus in der Provinz werden aufgegriffen und aus einer Perspektive erzählt, die der des Kindes so nahe wie möglich kommen möchte. Diese erzählerische Entscheidung ist nicht nur in diesem Roman eine heikle, umso mehr, wenn sie sprachmagische, fast mystische Erfahrungen des Mädchens, das häufig ohnmächtig wird, beschreibt: "Vor und nach der Ohnmacht gerät alles in ihr durcheinander. Der. Die. Das. Der. Das. Die. Sie sieht auf ihre Fingerkuppen und vertieft sich in den Verlauf der Zeichnung, die sie ihr schenken. Das Labyrinth, das Pepsi dabei entdeckt, scheint jedes Mal etwas in ihr zu wecken. Die Artikel schlafen in ihr und kommen nicht so schnell wieder zu ihr zurück. Wie flüssig gewordene Luft verschiebt sich die Welt ins Unaussprechliche."
Die Frage, wie das Unaussprechliche auszusprechen sei, beantwortet der Roman, indem er alle Register zieht. Metaphern, allen voran das titelgebende Herzflorett, das hier als Bild für die verletzende Sprache von Pepsis Mutter eingesetzt ist, dazu synästhetische Visionen der Protagonistin, die das Alphabet zuerst riecht, und eigenwillig interpunktierte Passagen wirken mal intensiv, dann wuchtig, aber gelegentlich auch unfreiwillig komisch: "Pepsi sieht nur Farben. Sie schwimmt in Farben. In ganz vielen Blautönen. Innen und Außen. Die Erde ruft ihre Füße. Es tut fast weh in den Zehen", dann wieder schlicht verwirrend: "Ich will in die Stadt, die nach Johann Wolfgang Goethe benannt ist, dem Mann, der das Ginkgo-Gedicht geschrieben hat, für das sie schon bald auf dem Lesezeichen der Buchhandlung im Vorort zuständig ist."
Zugleich wandelt sich wenig im Blick auf die Protagonistin. Sie scheint kaum älter zu werden, obwohl der Roman ein Jahrzehnt durchmisst, wirkt wie unangetastet von allen Anfechtungen und Anfeindungen. Die Geschichte von Pepsi, die so viel historischen und gesellschaftlichen Zündstoff birgt, klingt dadurch durchweg wie ein sentimentales, oft brutales Märchen, dessen ambivalentes poetologisches Programm einmal so formuliert wird: "Eigentlich hat Pepsi schon lange verstanden, dass man mit Metaphern nur vorübergehend ein bißchen besser atmen, aber nie richtig leben kann, dass weder Menschen noch das Leben selbst eine Metapher sind, aber man trotzdem irgendwie alles übersetzen muss, um es bißchen besser zu verstehen." Dieses "trotzdem irgendwie alles Übersetzenmüssen" mag der Erzählerin Freiheit sein. Es wird leider schnell zu der Leserin Zwang.
Dazu kommt, dass Pepsi durch und durch gut ist und es bleibt, was angesichts ihres gewaltgeprägten und von transgenerationellen Traumata geschüttelten familiären Umfelds ein wenig befremdlich wirkt. Vom Vater gequält, von der Mutter geohrfeigt und sanktioniert, später von Onkel und Tante zu einer Bürgschaft für einen Kredit verleitet, den sie bitter abstottern muss, einer versuchten Vergewaltigung entkommend, den ersten Geliebten an den Krieg verlierend, geht sie unbeirrt und aufrecht ihren Weg. Das passt zum Märchenhaften des Romans, aber eher wenig in die Welt. BEATE TRÖGER
Marica Bodrozic: "Das Herzflorett". Roman.
Luchterhand Verlag, München 2024. 288 S., geb.
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