Mario Vargas Llosa hat ein spätes Meisterwerk geschrieben, in dem er seine Lebensthemen virtuos zusammenführt. Von großen und noch größeren Versuchungen erzählt dieser sinnliche, kräftige, lebenspralle Roman, von der Verführungskraft der Musik, der grenzenlosen Leidenschaft für die Kunst und die Welt - und der Schwierigkeit, dabei Maß zu halten.
Toño Azpilcueta führt Familien- und Berufsleben mit sehr mäßiger Begeisterung. Seine Leidenschaft gilt der traditionellen Musik seines Landes, dem peruanischen Walzer, den er seit der Jugend akribisch erforscht. Eines Tages lernt er einen unbekannten, aber offensichtlich über alle Maßen talentierten Gitarristen namens Lalo Molfino kennen. Die Begegnung verändert Toños Leben - sehr zur Beunruhigung seiner Familie -, denn Molfino spielen zu hören, ist für ihn eine Offenbarung. Augenblicklich weiß Toño, was seine Mission ist: Er schreibt endlich das Buch, über Molfino, den peruanischen Walzer und vor allem die künstlerische Vision eines besseren Lebens. Es wird ein Erfolg und Toño berühmt. Was läge also näher, als das Buch zu erweitern, sein Land, dessen Geschichte, die ganze Welt darin unterzubringen? Immer mehr, geradezu manisch, schreibt Toño daran, taub gegen die lauter werdende Sorge seiner Familie . . .
»Das ist mein letztes Buch. « Mario Vargas Llosa
Besprechung vom 05.09.2024
Wem wird er sein Schweigen widmen?
Musik als Allheilmittel für Krisen und Konflikte: Mario Vargas Llosas vorgeblich letzter Roman
Im vergangenen Herbst stellte Mario Vargas Llosa seinen neuesten Roman vor und bekannte zugleich, dass dies sein letzter sei, abgesehen von einem Text über sein frühes Vorbild Jean-Paul Sartre, den er noch schreiben wolle. Das war ein kräftiger Paukenschlag im internationalen Literaturbetrieb. Und die Neugier war groß: Welchem Thema würde sich der siebenundachtzig Jahre alte Nobelpreisträger zum Finale seiner immensen schriftstellerischen Produktion widmen? In welches Land würde er die Handlung verlegen? Welche Botschaften würde er seinen Figuren am Ende seines literarischen Wirkens anvertrauen?
Der Titel gab Rätsel auf: "Le dedico mi silencio" (Ihnen widme ich mein Schweigen). Schon nach der Lektüre der ersten Seiten wurde klar, dass Vargas Llosa mit diesem Spätwerk in sein Heimatland Peru zurückgekehrt ist und sich die Auseinandersetzung mit einem Sujet zur Aufgabe gemacht hat, das er in seinen früheren Werken eher vernachlässigte: der peruanischen Musik. Soeben ist der Roman in der sorgfältigen Übersetzung von Thomas Brovot auf Deutsch erschienen, unerklärlicherweise unter einem gänzlich anderen, eher banalen und irreführenden Titel: "Die große Versuchung".
Vargas Llosas Hauptfigur, der als Musikkritiker und Wissenschaftler glücklose Toño Azpilcueta, ausgewiesener Kenner der peruanischen Volksmusik, ist in den Bann eines phantastischen Gitarristen aus dem Norden Perus geraten. Dieser Lalo Molfino hat ihn bei einem Konzert zu Tränen gerührt und derart begeistert, dass er ein Buch über ihn schreiben will. Azpilcueta begibt sich auf die Suche nach dem Gitarristen, doch der ist nicht zu fassen. Auch nach Gesprächen mit Personen, die den Musiker näher gekannt haben, bleibt er ein Phantom.
Entscheidend wird die Begegnung Azpilcuetas mit der Sängerin Cecilia Barraza, die Molfino eine Zeitlang in ihrer Truppe hatte. Sie beschreibt ihn zwar als Genie, das wunderbar Gitarre spielte, aber auch als einen überaus schwierigen Menschen, der immer nur allein auftreten wollte. Die anderen Musiker hätten ihn gehasst. Folglich habe sie ihn aus dem Ensemble hinausgeworfen. Am letzten Tag habe er sich mit einem mysteriösen Satz von ihr verabschiedet: "Ihnen widme ich mein Schweigen."
In dieser Zentralszene, die dem spanischen Original den Titel lieferte, muss Azpilcueta dann auch noch erfahren, dass Molfino inzwischen gestorben ist. Das spornt ihn aber erst recht an, mit seinem Buch eine, wenn auch postume Hommage an den Gitarristen zu verfassen und damit gar einen "Beitrag zur Lösung der großen Probleme des Landes" zu leisten. Azpilcueta begibt sich in den Norden Perus, in den Ort Puerto Eten, aus dem Molfino angeblich stammte. Daraus ist die spannendste und intensivste Episode von Vargas Llosas Roman entstanden.
Azpilcueta erfährt, dass der Gitarrist als Neugeborener von einem aus Italien stammenden Pfarrer namens Molfino auf einer Mülldeponie aufgelesen, von diesem aufgezogen worden sei und den Namen des Priesters erhalten habe. Der Anblick der Müllberge, auf denen Ratten und Kakerlaken herumwuseln, traumatisiert den Musikjournalisten derart, dass er eine Ungezieferphobie entwickelt, die ihn immer wieder heimsuchen wird. Er bringt schließlich das Werk über Molfino zustande, das freilich weit über eine reine Biographie hinauswächst und zu einem Hohelied auf die peruanische Musik und deren gesellschaftliche Wirkung gerät.
"Braucht es jetzt nicht mehr denn je ein Buch, das Peru erneut vereint", lässt Vargas Llosa Azpilcueta fragen. Eigentlich fragt er sich das selbst, denn er wechselt immer wieder die Erzählperspektive, treibt mit seiner Romanfigur ein bizarres Wechselspiel, wird gar zu deren Alter Ego. Er wendet sich in der Ich-Form an seine "lieben Leser", wobei man nie genau weiß, ob gerade Azpilcueta oder "der Andere", Vargas Llosa, spricht. In mehr als einem Dutzend der siebenunddreißig unterschiedlich langen Kapitel unterbricht Vargas Llosa die Geschichte über den Musikkritiker Azpilcueta und dessen Jagd nach dem Phantomgitarristen mit Abhandlungen, Einlassungen und Reflexionen zu den unterschiedlichsten Themen, die aber fast alle um die "kreolische Musik" und insbesondere den Vals als Allheilmittel für Krisen und Konflikte kreisen.
Führte man diese reflektiven Kapitel zusammen, ergäbe sich daraus ein nahezu komplettes Sachbuch über Geschichte und Wirkung der "kreolischen Musik" Perus. Vargas Llosa hat, wie üblich, akribisch recherchiert. Er erwähnt unendlich viele Namen, die den von Europa importierten Walzer der peruanischen Volksmusik dienstbar gemacht haben, darunter den Sänger Felipe Pinglo Alva, Chabuca Granda, eine Grande Dame des kreolischen Lieds, die wiederum den Vals ins Ausland exportiert hat, oder den Gitarristen, Komponisten und Arrangeur Oscar Ávila.
Es verwundert denn auch nicht, dass Cecilia Barraza, die angeblich den Wunder-Gitarristen Molfino am Ende seiner Tage erlebt hat, eine noch lebende und aktive, überdies mit Vargas Llosa befreundete Vals-Sängerin ist. Um Authentizität bemüht, hat er, wie ein privates Video belegt, Schauplätze seiner Geschichte besucht, sogar die Müllhalde in Puerto Eten, auf der vorgeblich der Gitarrist Molfino als ausgesetzter Säugling von dem italienischen Pfarrer gefunden wurde.
Einige von Vargas Llosa in dem Roman vertretene Thesen darf man mit Fragezeichen versehen, so etwa seine Meinung über die mit äußerst fragwürdigen Methoden erzielte integrative Wirkung der katholischen Kirche und der spanischen Sprache in Lateinamerika. "Die Vereinheitlichung der Sprache dank des Spanischen war das Beste, was Lateinamerika passieren konnte", doziert er etwa. Gewagt seine Behauptung, die Spanier seien bei der Eroberung Lateinamerikas kultivierter vorgegangen, als wenn die Engländer den Kontinent in Beschlag genommen hätten. Der "Huachafería", der sehr peruanischen Verhaltensweise, eleganter und edler zu erscheinen, als man selbst ist, gesteht er seltsamerweise ähnlich heilsame Effekte zu wie der kreolischen Musik.
Hinter dem Roman, dessen Handlung Vargas Llosa in die Achtziger- und Neunzigerjahre verlegt, wetterleuchtet der Terror des "Sendero Luminoso" (Leuchtender Pfad). Damals wurde Peru von einer besonders heftigen politischen und gesellschaftlichen Krise erschüttert. Es war die Zeit, als Vargas Llosa sich berufen fühlte, als politische Autorität aufzutreten und sich zum Präsidenten wählen zu lassen. Er ist bekanntlich bei den Wahlen 1990 dem Konkurrenten Alberto Fujimori unterlegen. Vargas Llosa lässt auch seine Figur Toño Azpilcueta scheitern. Der hat zwar Erfolg mit der ersten Auflage seines Buches, verliert sich aber schließlich völlig im Dickicht immer neuer Erfahrungen, Erkenntnisse und Einsichten, in den weiteren Ausgaben wird das Buch zusehends unlesbarer.
Es bleibt die Frage, wem Vargas Llosa mit dem vieldeutigen spanischen Originaltitel "Le dedico mi silencio" sein künftiges Schweigen als Literat widmen will. Seinem Peru? Seinem Romanpersonal? Der Musikerelite seines Landes? Seiner Leserschaft? Sein mutmaßlich letzter Roman reicht zwar in der erzählerischen Kraft nicht an seine früheren Meisterwerke heran, enthält aber mit seinem nachdrücklichen Eintreten für die Musik als Allheilmittel für Konflikte im menschlichen Miteinander eine starke Botschaft. Das Werk ist nicht nur sein Abgesang als Romancier, es ist sein Vermächtnis. JOSEF OEHRLEIN
Mario Vargas Llosa:
"Die große
Versuchung".
Roman.
Aus dem Spanischen
von Thomas Brovot. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2024.
304 S., geb.
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