Gormenghast - das mächtige, labyrinthische Schloß, der Stammsitz der Grafen Groan, gehört zwar keiner Zeit an und keinem bestimmten Ort, doch so, wie Mervyn Peake seine phantastische Geschichte erzählt, bleibt weiter nichts unbestimmt ...
Im Gegenteil: jede Szene wird grell ausgeleuchtet, wird geradezu furchterregend nahegerückt. Bewohnt wird das Schloß von erstaunlichen Figuren mit ausgesprochenen Mittelstandsallüren, die der Autor so dicht heranführt, daß man sie beinahe berühren könnte. Und den fetten Swelter zu berühren, die massige Lady Gertrude oder den spinnenhaften Mister Flay, das wäre in der Tat ein Schock.
Ein Fantasyroman voll schillernder Figuren und einem labyrinthischen Schauplatz, der skurriler nicht sein könnte. Mervyn Peakes zeitloses Meisterwerk ist das Vorbild für viele moderne Fantasyautoren.
"Gormenghast" ist von der Hand eines Zauberers geschrieben.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort von Kai Meyer
Jemand hat einmal die Frage gestellt, wie sich die phantastische Literatur entwickelt hätte, wäre nicht Tolkiens Herr der Ringe , sondern Mervyn Peakes Gormenghast zur Blaupause des modernen Fantasy-Genres geworden.
Sicher ist, es gäbe mehr Bücher wie jene Handvoll, die sich ganz offen zu Peake bekennt: Gloriana von Michael Moorcock, China Mievilles Perdido Street Station , Die Spur des goldenen Opfers von Lucius Shepard, natürlich die Viriconium -Trilogie von M. John Harrison, Gene Wolfes Buch der Neuen Sonne und Jeff VanderMeers Stadt der Heiligen & Verrückten . Es mag noch weitere geben, aber alles in allem ist die Liste nicht lang.
Warum also gilt Gormenghast bis heute als einer der Eckpfeiler der Fantasy?
Vielleicht, weil es abseits von Tolkien das erste Werk war, das voll und ganz auf Visualisierung setzt. Die Geschichte - gut und schön. Die Charaktere - ein Panoptikum aus wandelnden Grotesken. Aber was da vor unserem inneren Auge entsteht, schon in den allerersten Sätzen, ist ein ausgefeiltes optisches Panorama. So wundert es nicht, dass Peake sich, wie Tolkien, erst zu einem Erfolgsautor entwickelte, als auch das Medium Film am Ende der Sechzigerjahre durch breitere Streuung und Verfügbarkeit einen neuen Stellenwert erlangte. Die protestierenden Studenten, die die Welten von Mittelerde und Gormenghast nahezu zeitgleich für sich entdeckten, waren - anders als ihre Eltern - bereits an Leinwand und Bildschirm geschult, sie wollten Geschichten und Welten nicht nur lesen, sondern sehen . Die Grenze zwischen den Wahrnehmungen beider Medien, zuvor vom Literaturbetrieb unumstösslich aufrecht erhalten, fiel gemeinsam mit vielen anderen Schranken in jenen Jahren. Und so verwundert es nicht, dass zwei Romane, die auf den ersten Blick wenig verbindet, aufgrund der atemberaubenden Visualität ihrer Beschreibungen so häufig in einem Atemzug genannt werden.
Man mag sich für den Plot der Gormenghast -Romane begeistern oder nicht, ihrer Atmosphäre kann man sich kaum entziehen. Und es sind jene Stimmungen, heraufbeschworen durch die sprachgewaltige Beschreibung der Schauplätze, die bis heute Generationen von Autoren geprägt haben. Nicht allen Geschichten mag man es auf den ersten Blick ansehen, aber Gormenghasts Einfluss ist in der aktuellen Phantastik allgegenwärtig. Seine Steine wurden abgetragen wie die der alten englischen Landhäuser, die man auf der anderen Seite des Ozeans wieder aufgebaut hat. Das Gestein von Schloss Gormenghast steckt in George R. R. Martins voluminösen Fantasyepen ebenso wie in den Pixeln zahlreicher Videospiele, Neil Gaimans Sandman -Comics und den Filmen von Tim Burton. Ich selbst habe in meinen Romanen wieder und wieder mit dem Mörtel der Groans gemauert; ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft ich meine Heldinnen und Helden über weitläufige Dächer und enge Treppenfluchten, durch endlose Hallen und verwinkelte Steinkorridore gejagt habe.
Vieles, das wir heute »gotisch« nennen, geht mindestens so sehr auf Gormenghasts Fundamente zurück wie auf die häufiger genannten Klassiker von Walpole und Radcliffe. So scheint es auf den ersten Blick verwunderlich, dass wir die Wurzeln seiner Entstehung ausgerechnet in China suchen müssen.
Mervyn Peake wurde 1911 in Guling geboren, einem beliebten Urlaubsort europäischer Kolonialherren im Osten Chinas. Vor allem Briten errichteten hier hunderte von Villen, in die sie sich vor der Sommerhitze des Tieflandes zurückzogen.
Peakes Vater arbeitete als Arzt und Missionar, seine Mutter als Krankenschwester. Als die Familie 1923 nach England zurückkehrte, hatten die Jahre in Guling und später in Peking den Zwölfjährigen bereits tief geprägt. Die strengen Rituale des chinesischen Alltags sollten auch das Leben der Bewohner Gormenghasts beherrschen: Das Schloss ist durchdrungen von Peakes Kindheitseindrücken.