Besprechung vom 22.09.2024
Er ist seine eigene Droge
Der Schriftsteller Michael Lentz hat ein Buch über den Musiker Herbert Grönemeyer geschrieben. Keine klassische Biographie, sondern der Versuch, ein Phänomen zu erklären.
In diesem Jahr ist "4630 Bochum" vierzig Jahre alt geworden. Ein Album, das in den deutschen Charts im Jahr seines Erscheinens Michael Jacksons "Thriller", die weltweit meistverkaufte Platte überhaupt, schlug und Herbert Grönemeyer, der damals zwar schon mehrere Alben veröffentlich hatte, einem breiteren Publikum aber vor allem als Schauspieler bekannt war, als Musiker etablierte. Jahrzehnte später ist Grönemeyer immer noch da, macht neue Musik, tourt und hat Erfolg, was ja, wenn man überlegt, von wem man das seit vierzig Jahren behaupten kann, eine ziemliche Leistung ist. In den deutschen Top Ten der meistverkauften Alben deutscher Künstler kommt Grönemeyer mit "Mensch" (Platz 1), "4630 Bochum" (2) und "Ö" (9) gleich dreimal vor; nimmt man die internationale Konkurrenz hinzu, immerhin zweimal. Anlass genug also, nach Gründen für diese Karriere zu suchen, zu verstehen, warum Grönemeyer in diesem Land seit vierzig Jahren so wahnsinnig geliebt wird.
Genau das tut der Schriftsteller und Dichter Michael Lentz in seinem neuen Buch, das den schlichten Titel "Grönemeyer" trägt. Auf fast 400 Seiten widmet er sich der Karriere des Sängers und schildert, wie dessen unverwechselbarer Stil entstand, zu dem nicht nur die Musik und Texte Grönemeyers gehören, sondern auch dessen Art, diese zu interpretieren, seine Intonation und seine Stimme.
Die Ankündigung des Fischer-Verlags, Lentz beschreibe in seinem Buch "ein faszinierendes Leben im Zeichen von Musik und Literatur, Pop und Politik", ist deshalb ein wenig irreführend. Zwar geht es dem Autor um Aspekte in Grönemeyers Leben, besonders um dessen Herkunft und die frühen Jahre, in denen er vom Musiker und Schauspieler zum Vollzeitmusiker wurde. Wer nun aber eine ausführliche Biographie erwartet, wird enttäuscht sein. "Im Zentrum", schreibt Lentz schon im Vorwort, "steht [...] stets die künstlerische Arbeit, weniger die Person. Biographisches wird vorrangig im Zusammenhang mit Grönemeyers künstlerischem Werdegang thematisiert."
Für diesen Werdegang ist Grönemeyers Kindheit und Jugend jedoch durchaus von Bedeutung, und so geht Lentz auf diese Jahre, die Ruhrpott-Jahre, auch ausführlich ein. Der Autor bleibt dabei immer so dicht an der Erzählung des Sängers, dass die Passagen mitunter wie eine Oral History des Ruhrgebiets anmuten. Grönemeyer beschreibt das Wesen dieses "Malocher-Milieus", seine Bodenständigkeit, die sich auch in der Sprache niederschlug. Die existenzielle Situation der Arbeit im Stollen erlaubte keine überflüssigen Worte. Hinzu kam der Umstand, dass hier Menschen unterschiedlicher Herkunft aufeinandertrafen. "Sprache", so sagt es Grönemeyer in seiner Leipziger Poetikvorlesung, "ist im Ruhrgebiet eher Signalgebung und Brückenschlag als Akrobatik oder Kunst."
Eine wichtige Figur in Grönemeyers Kindheit ist der Vater, ein Bergbauingenieur und "selbst erklärter Humanist", der, wie der Sänger sich erinnert, "gerne auch schon mal morgens im Garten in der Turnhose lauthals Heine, Goethe oder Rilke zitierte". Aus dem Krieg als "einarmiger Bandit" zurückgekehrt, wie es in Grönemeyers Stück "Blick zurück" heißt, ist er dem Sohn "das Beispiel für Zufriedenheit". Seine Haltung zum Leben ("Kinder, ist das nicht wieder herrlich?") wie auch die Bedeutung, die er Freunden beimaß ("Das Wichtigste im Leben"), waren Dinge, schreibt Lentz, die den Sohn maßgeblich prägten.
Man liest das und versteht, wie sich zwischen diesen beiden Polen - der Kumpel- und Kneipenwelt des Ruhrgebiets und dem bildungsbürgerlichen Elternhaus - ein Musiker entwickeln konnte, der zwar die Massen erreicht, dessen Musik jedoch nie konformer Mainstream war. Der während des Schreibprozesses seiner Liedtexte alles liest, was er nur finden kann, der Mascha Kaléko, Kurt Tucholsky und Friederike Mayröcker liebt, und zu dessen Leben aber ebenso selbstverständlich der Besuch im Fußballstadion (beim VfL Bochum trägt er die Mitgliedsnummer 4630) dazugehört.
In "Über die Liebe", einem der letzten Teile des Buchs, geht Lentz im charmanten Unterkapitel "Speisen, Cruisen, Kicken" auf die Leidenschaften des Sängers ein. Unter anderem stellt er eine vielleicht etwas weit hergeholte, aber doch lustige Verbindung zwischen Schall- und Herdplatte her, um die Bedeutung von Grönemeyers Liebe zum Kochen für seine Musik zu illustrieren. Automärkte, heißt es an anderer Stelle, übten eine "magische Anziehungskraft" auf den Sänger aus. Beobachtungen, die allesamt zur Beantwortung der Leitfrage des Buches beitragen: Was macht Grönemeyer, den Menschen, und, daraus folgend, den Musiker aus?
Im mittleren Teil von "Grönemeyer" versucht Lentz diese Frage besonders detailliert zu beantworten. Minutiös wird der Arbeitsprozess des Musikers beschrieben, seine Gesangs- und Schreibtechnik erklärt. Wie dieser erst die Musik komponiert und dazu sogenannte "Bananentexte", also Quatschtexte verfasst, die er erst, wenn alles fertig und eingespielt ist, durch die richtigen Texte ersetzt. Lentz analysiert einzelne Lieder, geht auf die Besonderheiten von Grönemeyers Stimme und den mitunter geäußerten Vorwurf ein, der Sänger "belle", anstatt zu singen. Ein ganzes Unterkapitel widmet er sogenannten "Tonbeugungen", also dem Umstand, dass Grönemeyer manch sperrige Formulierung nicht aufgibt, um sie der Musik anzupassen und den Song harmonischer klingen zu lassen, sondern sie stattdessen ungewöhnlich betont. Dabei nimmt er auch in Kauf, dass man einige Zeilen schlecht oder vielleicht gar nicht versteht. Die Irritation, die Reibung, die Störung, schreibt Lentz, seien für Grönemeyers Musik fundamental. Wird es zu glatt, sagt der Sänger, werde es "schlagerhaft".
An dieser und vielen anderen Stellen leuchtet Lentz' Erklärung durchaus ein. Man versteht Grönemeyers Musik besser, ohne dass sie durch die Analyse entzaubert würde. Andere Passagen haben hingegen eindeutige Längen und setzen ein musiktheoretisches Wissen und Interesse voraus, das auch hartgesottene Fans vielleicht nicht unbedingt haben. Das klingt dann zum Beispiel so: "Das Intro von 'Mensch' besteht aus 2 Takten Em, 2 Takten D und 4 Takten Hm, demnach handelt es sich also um eine II-I-VI- bzw. IV-III-I-Kadenz, je nachdem, ob das Stück in D-Dur oder h-Moll steht. Im Intro von 'Mensch' hören wir aber Em als Tonika und nicht D oder Hm. Somit also wäre die Kadenz I-VII-V. " Wer sich unter diesen Begriffen wenig vorstellen kann, dem ist mit der Erklärung kaum geholfen.
Möglicherweise merkt man hier, dass "Grönemeyer", so schreibt es der Fischer-Verlag, das Buch eines "langjährigen Freundes" des Sängers ist. Die Erzählung ist so eng mit der Perspektive des Porträtierten verknüpft, dass man mitunter die eine Stimme kaum von der anderen unterscheiden kann. "Sting ist seit Jahren einer der besten Songwriter, die es gibt", liest man einmal, einen Satz, den wahrscheinlich Grönemeyer gesagt hat, der aber auch von Lentz stammen könnte. Oder ist es gar eine allgemeingültige Wahrheit? Das ist nicht unbedingt schlimm, zumal die Prämisse (hier schreibt ein Freund) ja immer klar ist. Es führt aber mitunter dazu, dass das Buch, das sich ja an Grönemeyers riesige Gruppe von Fans richten soll, manchmal etwas zu viel voraussetzt.
Bei aller musiktheoretischen Detailversessenheit ist es aber doch - obwohl die meisten Leser und Fans wahrscheinlich auch ein großes Interesse an Grönemeyers Biographie haben - angenehm, ein Buch zu lesen, das der Versuchung widersteht, zu tratschlastig oder sentimental zu sein. Was Lentz vor allem vermitteln will und was ihm auch gelingt: Er zeigt, mit welcher Leidenschaft Grönemeyer seine Musik macht, wie er immer wieder versucht, sich weiterzuentwickeln, und sich dabei doch treu bleibt. Wer schon einmal bei einem Konzert Grönemeyers war, sieht ihn dann vor sich, wie er voller Energie über die Bühne rennt, riesigen Spaß hat, sich wahnsinnig über sein Publikum freut und dann auch mal laut ruft: "Klasse!" Einmal, schreibt Lentz, habe dessen Band zu Grönemeyer gesagt: "Du bist deine eigene Droge." Warum er das auch für viele andere seit Jahrzehnten ist, erklärt dieses Buch. ANNA VOLLMER
Michael Lentz: "Grönemeyer". S. Fischer Verlag, 368 Seiten
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