"Wintersonnenwende" ist die packende Fortsetzung einer neuen Nordic Noir-Krimireihe aus der Feder des aufstrebenden schwedischen Autors Pascal Engman und seines Co-Autors und Journalisten Johannes Selåker. Der Roman knüpft nahtlos an die Ereignisse des ersten Bandes an und entführt uns ins winterliche Schweden der Jahre 1994 und 1995. Im Mittelpunkt steht erneut das unkonventionelle Ermittlerduo, bestehend aus dem Polizisten Tomas Wolf und der Journalistin Vera Berg.
Die Autoren präsentieren einen beeindruckenden, wendungsreichen Krimi mit einem packenden, komplexen Plot, in den sie geschickt historische Ereignisse und damals aktuelle gesellschaftliche Themen einflechten. Neben der fesselnden Krimihandlung gewähren sie uns schockierende Einblicke in die Abgründe der menschlichen Psyche und zeichnen ein nachdenklich stimmendes, realitätsnahes Bild der damaligen Gesellschaft und Politik.
Die lebendige, atmosphärische Darstellung Stockholms der 1990er Jahre und der schwedischen Winterlandschaft ist äußerst gelungen und unterstreicht die für Nordic Noir typische, beklemmende Gesamtstimmung.
Nachdem in der eiskalten Silvesternacht 1994 ein Freier in einem Stockholmer Bordell erschossen wird und die nackte Prostituierte Lucy durch ihre Flucht nur knapp dem Tod entkommen kann, nehmen Kommissar Tomas Wolf und sein Kollege Zingo zunächst die Ermittlungen auf. Es dauert gar nicht lange bis ein zweiter Mord geschieht, bei dem ein Nachtclubbetreiber und Porno-Produzent auf brutale Weise umgebracht wird. Parallel dazu recherchiert die ehrgeizige Journalistin Vera Berg zu den rätselhaften Mordfällen im Rotlichtmilieu und vermutet, dass die untergetauchte Lucy eine zentrale Rolle bei den grausamen Verbrechen spielt. Die Suche nach der verschwundenen Prostituierten entwickelt sich zu einer nervenaufreibenden Jagd, bei der Wolf und Berg trotz ihrer Differenzen und Vorbehalte wieder zusammenarbeiten müssen.
Die Handlung entfaltet sich zu einem fesselnden Page-Turner mit mehreren verwobenen Erzählsträngen. Durch den temporeichen Erzählstil, rasche Perspektivwechsel und geschickt platzierte Cliffhanger erzeugen die Autoren eine konstant hohe Spannung, die uns bis zur letzten Seite in ihren Bann zieht.
Die Autoren wechseln gekonnt zwischen den Perspektiven von Tomas, Vera und Lucy, so dass wir aufschlussreiche Einblicke in die Gedanken und Motivationen der Hauptfiguren erhalten, aber dennoch über die Hintergründe lange Zeit im Ungewissen bleiben. Allmählich verdichten sich die verschiedenen Ermittlungsergebnisse und Hinweise auf den möglichen Täter. Nach einigen unvorhersehbaren Wendungen, falschen Spuren und überraschenden Enthüllungen gipfelt der Fall in einem packenden, sehr nervenaufreibenden Showdown. Einige Wendungen gegen Ende wirkten allerdings etwas zu forciert und unglaubwürdig auf mich. Auch die Aufklärung der Hintergründe des Falls wirkte auf mich nicht ganz rund und lässt einige logische Unstimmigkeiten erkennen.
Die Hauptfiguren Tomas Wolf und Vera Berg sind komplex und vielschichtig gezeichnet. Ob nun der Polizist Tomas Wolf mit seiner belasteten Vergangenheit als Ex-Mitglied einer rechtsextremen Gruppierung und belastenden Traumata aus seiner Zeit als UN-Soldat im Balkan-Krieg oder die ambitionierte Journalistin bei der Boulevardzeitung Aftonbladet Vera Berg, die sich um den kleinen Sohn ihres kleinkriminellen Ex-Freunds kümmern muss, und taucht dennoch unerschrocken in die gefährlichen Recherchen zur neuen Story ein beide sind faszinierende, emotional angeschlagene Charaktere mit ungewöhnlichen Hintergrundgeschichten, konfliktbeladenen Privatleben und dunklen Geheimnissen. Ihre persönlichen Traumata beeinflussen nicht nur ihr berufliches und privates Leben, sondern auch ihre gegenwärtigen Handlungen und ihren moralischen Kompass.
Die Dynamik zwischen den beiden und ihre komplizierte Zusammenarbeit, die von Misstrauen und gegenseitiger Abhängigkeit geprägt ist, sorgen für viel Spannung. Sehr beeindruckend ist es, neue Facetten ihrer Persönlichkeit zu entdecken und ihre persönliche Weiterentwicklung mitzuerleben. Beide Protagonisten wirkten zwar insgesamt glaubwürdig, jedoch wegen einiger ihrer Eigenarten und Handlungen nicht sehr sympathisch auf mich.
Die Autoren verstehen es hervorragend, gesellschaftliche Themen, insbesondere die Schattenseiten der Prostitution schonungslos darzustellen und das gnadenlose Umfeld der Sexindustrie kritisch zu beleuchten. Äußerst gelungen ist zudem die Einbettung der Handlung in den historischen Kontext. Insbesondere die Estonia-Katastrophe als kollektives Trauma der schwedischen Nation zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Die vielfältigen Auswirkungen historischer Ereignisse werden gekonnt mit den persönlichen Schicksalen der Charaktere verwoben. Geschickt zeigen die Autoren die oftmals ineinander fließenden Grenzen zwischen Recht und Unrecht auf, die bei den polizeilichen Ermittlungen nicht selten für moralische Dilemmata und riskante Alleingänge sorgen.
FAZIT
"Wintersonnenwende" ist eine gelungene Fortsetzung der fesselnden Nordic-Noir-Reihe, die uns auf eine faszinierende Zeitreise ins Stockholm der 1990er Jahre mitnimmt. Mit seiner komplexen Handlung, vielschichtigen Charakteren und beklemmenden Atmosphäre geht dieser Krimi unter die Haut.