In London hat die 26-jährige Venetia Stanley - aristokratisch, klug, unbekümmert - eine Affäre mit Premierminister H. H. Asquith, einem Mann, der mehr als doppelt so alt ist wie sie. Er schreibt ihr wie besessen Liebesbriefe und teilt ihr die heikelsten Staatsgeheimnisse mit.
Während Asquith das Land unfreiwillig in den Krieg gegen Deutschland führt, untersucht ein junger Geheimdienstoffizier die widerrechtliche Enthüllung streng geheimer Dokumente - und plötzlich wird aus einer intimen Affäre eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit, die den Verlauf der politischen Geschichte verändern wird.
Besprechung vom 05.09.2024
Kurz vorm Nervenzusammenbruch
Robert Harris hat es wieder geschafft: Mit seinem gerade in England erschienenen Roman "Precipice" erzählt er Zeitgeschichte wie einen Thriller.
In "Precipice", seinem sechzehnten Roman, hat der britische Autor Robert Harris nach der für ihn bewährten Methode, tatsächliche Vorgänge aus einer ungewöhnlichen Perspektive zu beleuchten, einen historischen Stoff zu einer meisterhaften Handlung verarbeitet. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs, als der britische Außenminister Sir Edward Grey bei Anbruch der Dämmerung aus seinem Bürofenster auf die Gaslaternen, die gerade angezündet wurden, blickte und schwermütig bemerkte, dass nun in ganz Europa die Lichter ausgingen, schweiften die Gedanken des liberalen Premierministers Herbert Henry Asquith von den heiklen Staatsangelegenheiten der Juli-Krise ab zu seiner heimlichen Liebe. Er war in den Fängen einer Leidenschaft für eine um 35 Jahre jüngere Frau, die als Jugendliche mit seiner Tochter befreundet gewesen war. Die Affäre hatte ihn derart vereinnahmt, dass er in jenen Tagen, in denen die Welt in den Krieg schlitterte, glaubte, Venetia Stanley am ersten Augustwochenende auf dem Sitz ihrer Familie in Wales besuchen zu können, mehr als sechs Stunden Bahnfahrt von London entfernt.
Am 28. Juli war er noch einigermaßen zuversichtlich, es zu schaffen. Tags darauf schrieb er Venetia, dass er die Stunden bis zum Wiedersehen am Samstag zähle. Am 30. Juli teilte er ihr mit, dass sein Kommen vom Ausgang einer Kabinettssitzung am nächsten Morgen abhänge. Im Anschluss an die war dann klar, dass er den dienstlichen Termin im nahegelegenen Chester absagen musste, der ihm als Vorwand für den Besuch gedient hatte. Doch klammerte Asquith sich trotzdem an die Hoffnung, Samstag und Sonntag "aus dem Wrack zu retten", wie er es formulierte. Er hatte sich sogar einen Zug herausgesucht, mit dem er am Samstag rechtzeitig zum Abendessen am nächstgelegenen Bahnhof eintreffen konnte. Tagelang habe ihm der Gedanke, Venetia zu sehen, ihr alles mitteilen zu können und ihren Rat, ihr Verständnis, ihre Zuneigung und ihre Liebe zu bekommen, Kraft gegeben, klagte er, als er akzeptieren musste, dass er sich nicht absentieren konnte. Eine "wahrlich erschütternde Folge von Schicksalsschlägen" habe alles zerschmettert.
Allein dieses kurze Resümee von Asquiths Korrespondenz aus den letzten Tagen des Friedens zeigt, in welch emotionale Abhängigkeit von der unkonventionellen jungen Adeligen der Premierminister just in einer Zeit geraten war, als die Politik seine ganze Aufmerksamkeit verlangte. Irland war ein Pulverfass, das jeden Moment zu explodieren drohte, und Europa stand vor dem Abgrund. Das hinderte ihn nicht daran, Venetia mitunter drei Mal am Tag zu schreiben. In den 560 Briefen, die er an sie richtete - die meisten davon zwischen Juni 1914 und Mai 1915, bevor sie ihn mit der Mitteilung erschütterte, dass sie heiraten werde -, hielt Asquith jeden Gedanken, jede Einzelheit seines politischen Handelns und jede Gefühlsregung fest. Um die Aufmerksamkeit der Geliebten zu fesseln, legte der Premierminister seinen mit Zitaten von Browning, Tennyson und Shakespeare gespickten Ergüssen streng geheime Durchschläge von Diplomaten-Telegrammen oder gar Originalbriefe führender Protagonisten bei. Der Leichtsinn seiner Vernarrtheit war unfassbar, zumal bei einem Politiker, der vielen wegen seines altmodisch-souveränen Wesens als "der Letzte der Römer" galt.
Für die Geschichtsforschung ist das acht Kisten füllende Konvolut, das in der Bodleian Library in Oxford bewahrt wird, eine Goldgrube. Umso bemerkenswerter, dass Historiker die Bedeutung der Beziehung als bloßen Flirt eines Politikers heruntergespielt haben, dessen Schwäche für junge Frauen ebenso notorisch war wie sein Alkoholkonsum, über den sogar ein Tingeltangel-Lied ("Mr Asquith says in a manner sweet and calm, another little drink wouldn't do us any harm") im Umlauf war. Asquiths Biograph Roy Jenkins, der die vollständige Korrespondenz vor sechzig Jahren als Erster einsehen durfte, meinte, sie habe der Leistung des Premierministers ebenso wenig Abbruch getan wie Asquiths Nachfolger David Lloyd George durch seine Vorliebe für den Hymmengesang oder Winston Churchills durch seine Neigung zu spätnächtlichen Gesprächen von deren Pflichten abgehalten wurden. Womöglich wollte Jenkins die mit ihm befreundeten Nachkommen Asquiths schonen. Die Herausgeber einer gefeierten Edition der Briefe des Premierministers, die 1982 erschien, gingen ebenfalls behutsam vor: Sie beschränkten sich auf etwas mehr als die Hälfte des umfangreichen Bestands und entfernten manche Intimität.
Das Gespür des politischen Journalisten, der Richard Harris einmal war, mit psychologischem Einfühlungsvermögen und jenem Erzählduktus verschmelzend, der noch jeden seiner Titel auf die Bestsellerlisten katapultiert hat, ist dem Schriftsteller ein historischer Roman gelungen, der selbst Geschichte schreibt, indem er ein frisches Licht auf Asquith wirft. Harris füllt nicht nur Lücken im Rahmenwerk der Geschichte mit seiner Phantasie aus. Er hat auch Material zutage gefördert, das von der Forschung übersehen oder unterdrückt worden ist. In seiner Darstellung scheint der Titel "Precipice" sowohl die Weltkatastrophe zu kennzeichnen als auch die persönliche Krise, die Asquiths obsessive Beziehung zu Venetia verursacht hat. Ohne über den Premier zu richten, macht Harris plausibel, dass dessen Ablenkung in einer kritischen Phase des Krieges gravierende Folgen zeitigte. Bisher hatte auch noch niemand darauf hingewiesen, dass Asquith Venetia in Aussicht stellte, mit ihr durchzubrennen, auch nicht, dass er sich mit Selbstmordgedanken trug, als sie sich, zunehmend erdrückt gefühlt von seiner Aufmerksamkeit, von ihm zu distanzieren begann. Asquiths trübe Stimmung dürfte dazu beigetragen haben, dass er nach dem Streit um den Mangel an Geschossen für die Westfront und dem Fiasko von Churchills Dardanellen-Abenteuer dem Druck stattgab, eine Koalition mit den Konservativen einzugehen. Aus seinen Briefen geht ein Mann am Rande des Zusammenbruchs hervor.
Zwei Umstände erwiesen sich für die Konstruktion von "Precipice" als Glücksfall. Zum einen ist die Korrespondenz nur einseitig erhalten, weil Asquith die Briefe von Venetia vernichtete, nachdem er im Dezember 1916 im Streit mit Lloyd George aus dem Amt gedrängt worden war. Während jedes Zitat des Premierministers also originalgetreu ist, hat sich Harris die Worte Venetias anhand von Hinweisen ausgedacht, die er Asquiths Schreiben entnahm, wobei er sich beim Tonfall an die von ihr überlieferten Korrespondenzen mit anderen Gesprächspartnern orientierte, darunter ihr späterer Ehemann.
Der andere Glücksfall betrifft Asquiths fahrlässigen Umgang mit Staatsakten, die außer ihm nur vier weitere hochrangige Regierungsmitglieder lesen durften. Wenn er sich gemeinsam mit Venetia beim freitäglichen Stelldichein in seiner Limousine spazieren fahren ließ, war das Paar im Fonds wie in einem Séparée von Fahrer und Außenwelt abgeschirmt. Dort pflegte er ihr offenbar wichtige Unterlagen zu zeigen, die er danach zerriss oder zerknüllte, bevor er sie zum Entsetzen seiner Begleiterin aus dem Autofenster warf. Solche Papierfetzen wurden im August 1914 an verschiedenen Plätzen rund um London und in den grünen Außenbezirken der Stadt von Passanten aufgesammelt und wegen der damals herrschenden Panik vor feindlichen Geheimagenten bei der Polizei abgegeben. Wie Asquith Venetia berichtete, erteilte Außenminister Grey bei der Suche nach der Quelle der Indiskretionen allen seinen damit befassten Mitarbeitern eine scharfe Mahnung zur Vorsicht. Das brachte Harris auf die Idee, einen Polizisten zu erfinden, der vom Geheimdienst den Auftrag erhält, die undichte Stelle ausfindig zu machen. Dieser Kunstgriff verleiht dem tatsächlichen Drama aus Politik und heimlicher Liebe nicht nur die zusätzliche Dimension eines fesselnden Thrillers. Er ermöglicht dem Autor Harris auch, die Wiedergabe von Passagen aus der Korrespondenz zu variieren, indem er die abgefangenen Briefe aus der Sicht eines hochanständigen Agenten namens Paul Deemer präsentiert, der seinen Vorgesetzten zunehmend politischer Intrigen gegen Asquith verdächtigt, die nur unter dem Vorwand des Schutzes britischer Staatsgeheimnisse vor deutschen Spionen erfolgen.
"Precipice" beeindruckt nicht nur mit technischer Virtuosität. Wie ein Maler stellt Harris mit seinem nuancierten Blick für vielsagende Details und einem feinen Ohr für Tonfälle die unterschiedlichen Temperamente und gesellschaftliche Klassen dar. Gleich im ersten Absatz führt er Venetia Stanley mittels einer impressionistischen Skizze als freigeistige junge Frau aus der Oberschicht ein, die mit nassem Haar und resolutem Schritt den nicht ganz kurzen Weg vom Freibad im Hyde Park zum herrschaftlichen Elternhaus zurücklegt - in der Hoffnung, dem Postboten zuvorzukommen, um den jüngsten Umschlag aus Downing Street in Empfang nehmen zu können, bevor er dem Familienhaushalt auffällt. Harris führt den Leser durch Wochenendgesellschaften auf Landsitzen, in die Herrenclubs, ins Krankenhaus, wo Venetia die ersten Kriegsverletzten aus Frankreich pflegt, um ihrem frivolen Leben einen Sinn zu geben, und in den Kabinettssaal von Downing Street, wo der kriegsselige Churchill seine Kollegen mit der ihm eigenen rhetorischen Kunst derart bezwingt, "dass er eine Niederlage wie einen Sieg klingen lassen könnte".
Derweil schaut Asquith verstohlen in seinen Taschenkalender, um Pläne für das nächste Treffen mit Venetia zu schmieden. "Was hältst Du von dieser Kampagne?", schreibt er ihr über seine Terminvorschläge für ein Rendezvous, während Churchill die Strategie für die Dardanellen-Offensive erläutert. Grandios, wie Harris die Verzahnung des Persönlichen mit dem Politischen schildert und mit dem Zerbrechen von Asquiths alterndem Herzen den Untergang der ganzen Vorkriegswelt vorwegnimmt. Die deutschsprachige Ausgabe, betitelt mit "Abgrund", erscheint im November bei Heyne. GINA THOMAS
Robert Harris: "Precipice".
Hutchinson Heinemann, London 2024.
464 S., geb., 22,- GBP.
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