Nächstenliebe und Almosen-Pflicht gegen Unterdrückung
"Mit der Niederschrift dieses Berichts macht sich Samia zum Sprachrohr von Tausenden von Frauen dieser Welt, die unter ihrem Schleier oder auf andere Weise eine schreckliche Geschichte verbergen. Aber 'Schleier der Angst' ist weit mehr als eine Schilderung von Leid und Unterdrückung. Es ist vor allem eine Geschichte außerordentlichen Mutes", schreibt Lynda Thalie, Schriftstellerin, Lektorin und Übersetzerin, im Vorwort. Der Mut, von dem Thalie spricht, ist nicht von Anfang vorhanden. Er wächst mit der zunehmenden Bedrohung des Lebens der Autorin und ihrer Kinder. Die siebenjährige Samia kann den Eltern noch nichts entgegensetzen, als diese beschließen, wieder in ihr Heimatland Algerien zurückzukehren. Als Sechzehnjährige wagt sie einen Widerspruch gegen die Zwangsverheiratung, kann ihr aber nicht entgehen.Sie kann sich nicht gegen die Vergewaltigungen und Schläge ihres Ehemannes schützen und auch nicht verhindern, dass ihr ihr erster Sohn weggenommen wird. Ihre Eltern, ihre Brüder und ihr Ehemann glauben sich im Recht. "Nach dem Credo der Fundamentalisten muss man rein sein, um ins Paradies aufgenommen zu werden. Man kann sich reinigen, indem man sich mit dem Blut des Menschen wäscht, der als beschmutzt gilt", schreibt Shariff auf Seite 97. Aus gegenwärtiger, westlicher Sicht ein Irrglaube mit fatalen Folgen für die Frauen in der islamischen Welt. Aber ist die christliche Predigt von der Erbsünde, Sigmund Freuds Theorie vom Penisneid der Frauen oder die florierende Sexindustrie besser, habe ich mich gefragt. Steckt nicht hinter und in den Bärten der Männer eine noch größere Angst, wenn sie Frauen seit Jahrtausenden unterdrücken?Die Flucht nach Montréal gelingt Samia mit ihren fünf Kindern am Anfang der Jahrtausendwende mit gefälschten Pässen. Im jetzigen, digitalen Zeitalter mit hinterlegten Fingerabdrücken eine Unmöglichkeit, meine ich. Die Machthaber haben ihre Kontrollmechanismen verfeinert. Sie säen die Angst nicht mehr nur mit verbalen Drohungen. In den neunziger Jahren in Algerien kann Samias älteste Tochter Norah ihren Vater noch zur Einwilligung in die Scheidung zwingen, indem sie damit droht, ihn wegen Kindesmissbrauchs anzuzeigen. Hätte sie damit fast dreißig Jahre später auch noch Erfolg? Bei Netzfrauen fand ich folgende Aussage vom 10. Mai 2023: "Die Sahara in Algerien ist momentan Aufenthaltsort für etwa hunderttausend Geflohene, die dort in Flüchtlingslagern verharren. Obwohl das algerische Recht die Grundrechte von Kindern garantiert, sieht die Realität ganz anders aus: Der Missbrauch von Flüchtlingskindern ist ein Thema, das in Algerien angegangen werden müsste. Da aber auf Grund von Armut selbst die Kinder, die in Algerien geboren werden, von Menschenhändlern geraubt werden, fragt niemand, wenn auch Flüchtlingskinder plötzlich verschwinden, oder irgendwo nach einem Missbrauch tot aufgefunden werden." Samia gehörte im Heimatland ihrer Eltern nicht zu den Armen. Im Gegenteil konnte sie ein großes Haus ihr Eigen nennen. Ein Haus, in dem sie und ihre Kinder aber um ihr Leben bangen mussten.Ihr Wohlstand ist ihr noch anzusehen, als sie in Paris ankommt, die Bedrohung nicht. So muss sie sich von der Sozialarbeiterin anhören: "Diese schwierige Lage haben Sie sich selbst zuzuschreiben, Madame! ... Sie hätten es sich zweimal überlegen sollen, bevor Sie mit fünf Kindern und ohne Geld hierherkommen. Was haben Sie sich denn gedacht? Dass eine Wohnung für Sie bereitsteht, wenn Sie hier landen?" Samia und ihre Töchter waren in Frankreich geboren worden. Mit einer Wohnung hätten sie nach fünf Jahren die französische Staatsbürgerschaft erlangen können. War das der wahre Grund, dass sie mit ihren Kindern fast ein Jahr lang in Hotels und einer Obdachlosenunterkunft zubringen musste? In der Präambel der französischen Verfassung vom 26. Oktober 1946 steht: "Jedermann, der wegen seines Einsatzes zugunsten der Freiheit verfolgt wird, hat in den Gebieten der Republik Asylrecht." Inzwischen äußerten unter anderen das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge und das Menschenrechts-Komitee der Vereinten Nation "Besorgnis" über Frankreichs Asylpolitik. Wie gut, dass es immer noch Menschen gibt, die zur christlichen Nächstenliebe fähig sind oder solche, die die Almosen-Pflicht im Islam beim Wort nehmen. Ich danke der Autoren herzlich, dass sie den Schleier der Angst gelüftet hat. Ich danke all jenen, die der Familie geholfen haben. Vera Seidl