Zum 100. Geburtstag von Siegfried Unseld
Für Siegfried Unseld waren Briefe nicht nur eine Arbeits-, sondern auch eine Lebensform. In ihnen ordnet er seine Gedanken. Sie begleiten und festigen Freundschaften. Sie helfen auf seinem beispiellosen Weg. Wichtige Förderer wie Hermann Hesse oder Peter Suhrkamp lernen ihn zunächst schriftlich kennen. Auch später, als das Reisen und Telefonieren leichter, üblich wird, legt der berühmte Verleger größten Wert auf seine Korrespondenz.
Über ein halbes Jahrhundert hinweg verschickte Siegfried Unseld täglich zahlreiche Briefe. So finden sich in den Archiven heute über 50. 000 eigenhändig geschriebene oder auch diktierte Schreiben. Aus dieser Fülle haben die Herausgeber 100 exemplarische Briefe ausgewählt und kenntnisreich kommentiert. In dem, was Siegfried Unseld Ingeborg Bachmann, Samuel Beckett, Ignatz Bubis, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Henry Kissinger, Autorinnen wie Autoren, Verlegern, Journalistinnen mitteilte, spiegelt sich nicht nur Unselds Denken. Diese Briefe dokumentieren eindrucksvoll und vielfältig die intellektuelle Geschichte der Bundesrepublik.
Besprechung vom 28.09.2024
Was soll hier überholt sein?
Zum hundertsten Geburtstag Siegfried Unselds erscheint ein Band mit hundert Briefen des Suhrkamp-Verlegers.
Als er von der geglückten Übersiedlung Uwe Johnsons nach Westberlin erfährt, schreibt der Frankfurter Verleger Siegfried Unseld am 14. Juli 1959 einen Brief an den Autor, dessen Debüt "Mutmassungen über Jakob" bei Suhrkamp erscheinen soll - Unseld leitet den Verlag seit dem Tod des Gründers Peter Suhrkamp zweieinhalb Monate zuvor. Der 34 Jahre alte Unseld empfinde "Freude und Erleichterung" über das Gelingen von Johnsons Flucht und verspricht ihm, "dass Sie mich immer zu jedem Rat und zu jeder Hilfe bereit finden". Das gilt ausdrücklich auch für die Unterkunft des nun heimatlosen Autors: "Ich ziehe heute in ein neues Domizil um", schreibt Unseld, "ich kann Sie hier jederzeit und auch für länger beherbergen: Frankfurt/Main, Klettenbergstraße 35." Es folgt ein Satz in Parenthese: "Dies ist inzwischen wohl überholt" - Johnson hatte sich gemeldet und den Wunsch geäußert, in Westberlin zu leben.
Dass dieser Satz 65 Jahre später anders klingt, als er gemeint war, liegt an der Entwicklung des Verlags nach dem Tod Siegfried Unselds im Oktober 2002. Das Suhrkamp-Haus in der Frankfurter Lindenstraße wurde verkauft und später abgerissen, als der Verlag 2010 nach Berlin zog, und auch die 1959 bezogene Villa in der Klettenbergstraße, die sich neben der privaten Nutzung auch für die Repräsentationsaufgaben des Verlags öffnete, wurde nach Unselds Tod erst nach ihm benannt und nun verkauft. Seine private Bibliothek gelangte einige Straßen weiter ins Holzhausenschloss, wo sie nun ausgestellt wird, das Archiv des Verlags nach Marbach.
Kürzlich wurde dort eine Ausstellung gezeigt, die sich den Briefen Unselds widmete (F.A.Z. vom 20. Juli) und nun verändert ins Holzhausenschloss gezogen ist. Eine Auswahl aus den etwa 50.000 Briefen, die von Unseld überliefert sind, erscheint zum heutigen hundertsten Geburtstag des Verlegers auch als Buch in der Bibliothek Suhrkamp. Die hundert Schreiben stammen aus der Zeit zwischen Juli 1947 und April 2002, der erste ist ein Bewerbungsschreiben des Zweiundzwanzigjährigen an den Verleger Hans Georg Siebeck, der letzte ein Gruß an den Freund Cees Nooteboom, den er um einen Besuch bittet - er "hoffe sehr, dass Du in guter Form bist", schreibt Unseld, "die meine lässt freilich zu wünschen übrig".
In den fünfundfünfzig Jahren, die dazwischen liegen, schreibt Unseld Briefe an Theodor Adorno, Ernst Bloch, Niklas Luhmann und Jürgen Habermas, an Friederike Mayröcker, Nelly Sachs, Anna Seghers und Helene Weigel, an deutsche und internationale Autoren, Kritiker, Dramatiker und Verlagsmitarbeiter wie den genialen Buchgestalter Willy Fleckhaus. Wollte man eine Literaturgeschichte der jungen Bundesrepublik einzig anhand dieses Buches, der Brieftexte und ihrer Kommentierung schreiben, so wäre sie naturgemäß einseitig und defizitär, aber im Rahmen dessen doch erstaunlich reich und jedenfalls lehrreich und vergnüglich. Dass Unselds Talent, das Suhrkamp zum zeitweilig wichtigsten deutschen Verlag machte, nicht zuletzt im Briefeschreiben bestand, teilt sich deutlich mit: dem heutigen Leser, aber auch den damaligen Adressaten.
Vom ersten der hier ausgewählten Schreiben an meint man, zumal aus der Rückschau, eine Doppelstrategie wirken zu sehen: Unseld geht auf sein Gegenüber ein, er wirbt um ihn, lässt erkennen, dass er den anderen in seinen Vorstellungen und Wünschen versteht und dass er ihn schätzt - mitunter scheint die Grenze zur Schmeichelei mindestens berührt, wenn nicht gar überschritten zu sein.
Das gilt besonders, wenn er Autoritäten schreibt, die ihm - wie der Tübinger Philosoph Wilhelm Weischedel - ermöglichten, "weite Räume des Geistes" zu durchschreiten, wofür er "als ein stiller Gläubiger" dem Hochschullehrer ausdrücklich dankt. Auch Hermann Hesse gegenüber vergisst er den Dank nicht: Gerade beschäftige ihn die "Kultur- und Geisteswelt des Ostens", die er in Hesses Werken "widergespiegelt" finde, "aus dem Blickpunkt einer grossen Einsicht und eines tiefen Verstehens". Dass er nun selbst bestrebt ist, in der Beschäftigung mit chinesischer Philosophie "dem 'Weg' und der 'Tugend', tao und te, mich zu nähern, die für unser Dasein angemessen sind", verdanke er Hesse.
Im selben Brief vom 22. Dezember 1948 kann er dem verehrten Autor eine eigene Besprechung von dessen Roman "Das Glasperlenspiel" senden und ihm außerdem berichten, dass die "Tübinger Studentenschaft" das Werk des greisen Autors außerordentlich schätze, anders als frühere Generationen, wie Unseld elegant einflicht. Ob diese Verehrung nun immerhin durch Aufsätze wie den Unselds befeuert werde, ob also die Tübinger Hesse-Begeisterung auch ein Verdienst des Bewunderers ist, der sich dann im Oktober 1951 bei der Bewerbung für Peter Suhrkamps Verlag ausdrücklich auf seine Hesse-Expertise berufen wird, lässt der Briefschreiber allenfalls anklingen.
Dieses Geschick, seine Briefpartner durch Nähe und Vertrautheit mit deren Interessen zu erreichen, ist das eine. Aber Unseld kann von Anfang an auch sehr deutlich werden, wenn es darum geht, einen Konflikt anzusprechen und die Berechtigung seiner Forderungen zu unterstreichen. Seinem Doktorvater Friedrich Beißner etwa schickt er im Juni 1951 einen selbstbewussten Brief, in dem er den "hochgeehrten Herrn Professor" - die Anrede klingt im Kontext gefährlich nah an der Ironie angesiedelt - an sein Versprechen erinnert, seine Dissertation bis zum vergangenen Februar durchzusehen. Am Ende wird er ganz deutlich, verlangt Informationen über die bislang geleistete Arbeit Beißners und wie der Zeitplan bis zur Prüfung aussehe.
Auch in den weiteren Briefen erlebt man den zugewandten und herzlichen Unseld ebenso wie den klar fordernden Geschäftsmann, der, so scheint es, mit Ausreden nichts anfangen kann und will. All das aber ist immer kontrolliert, auch die freundschaftlichsten Angebote etwa der materiellen Unterstützung wirken eben nicht nur freundschaftlich, sondern auch ernst gemeint und verlässlich. Gehen lässt er sich nie, aber er setzt sich auch nicht an den Schreibtisch, wenn ihm die Sache nicht wichtig ist - er ist beteiligt, er lässt seinen Adressaten das auch spüren. Aber er liefert sich ihm nicht aus.
Der Kriegsheimkehrer betont in den ersten Briefen immer wieder, dass er viel nachzuholen habe, was die deutsche und internationale Literatur angeht. Er ist rastlos, gibt sich mit dem Notabitur im Krieg nicht zufrieden, sondern holt den Abschluss regulär nach, und später verraten nicht nur seine Publikationen, sondern auch seine Briefe eine ungewöhnlich umfassende Bildung. Seinem "lieben Freund Peter" Bichsel wäscht er 1982 den Kopf wegen dessen Interpretation von Goethes Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre", hält ihm eine ausführliche und kluge eigene entgegen und gibt im Eifer des Gefechts Goethes Novelle "Nicht zu weit" den schönen Titel "Nicht zu zweit".
Unterläuft ihm das? Spielt er auf irgendetwas an? Die Herausgeber des Briefbandes lassen uns damit allein, geben aber sonst gewissenhaft und souverän Auskunft über alles, was sich nicht sofort selbst erschließt, und ergänzen das mit Nachwort und Registern. So ist das größte Kompliment, das man diesem hervorragend edierten Band machen kann, dass die Auswahl der hundert Briefe rasch als zu gering erscheint. Das ließe sich beheben. TILMAN SPRECKELSEN
Siegfried Unseld: "Hundert Briefe".
Hrsg. von Ulrike Anders und Jan Bürger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 468 S., geb.
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