John Stuart Mill (1806-1873) gehört zu den Klassikern des Liberalismus. Sein Werk markiert den Beginn eines neuen, modernen Liberalismus, wodurch seine Überlegungen auch für heutige Debatten anschlussfähig sind. Das Handbuch gibt einen Überblick über Mills Leben, die wichtigsten Einflüsse auf sein Denken, die zentralen Schriften und Konzepte und zeigt Mills Wirkung in den für sein Werk maßgeblichen Diskursen. Es bietet damit einen ersten Zugang zu Mills Denken sowie einen schnellen, strukturierten Zugriff für eine informierte Leserschaft.
Inhaltsverzeichnis
Besprechung vom 23.09.2024
John Stuart Mills Vermächtnis
Ein Handbuch über einen ökonomischen Klassiker
Früher galt die politische Ökonomie oder die Volkswirtschaftslehre als ein Schlüssel zum Verständnis von Gegenwart und Zukunft: als die Physiokraten im 18. Jahrhundert in Paris das "Tableau économique" zur Untersuchung der Wirtschaftskreislaufes und die Agrarsteuer zur Rettung des monarchischen Frankreichs vor der Revolution entwarfen, als die britischen Klassiker in Glasgow, Edinburgh und London das Potential des wirtschaftlichen Wachstums zur Überwindung von Not und Ungleichheit während der industriellen Revolution erkannten oder als in Deutschland die soziale Marktwirtschaft nach dem Nationalsozialismus eine "irenische Formel" zur Orientierung gab. Heute ist die Nationalökonomie durch die Ökonometrie so technisch geworden, dass Diagnosen und Prognosen von Spezialisten erstellt werden, deren Verfahren effizient sein mögen, aber dem Laien undurchsichtig bleiben. Nun sucht man die Orientierungen zunehmend bei anderen Wissenschaften wie namentlich der Politologie. Die Politologen aber bedienen sich bei der volkswirtschaftlichen Tradition.
In diesen Zusammenhang gehört das Mill-Handbuch. Herausgeberin ist die Politologin Frauke Höntzsch. Gut dreißig Autorinnen und Autoren haben mitgearbeitet. Sie gehören meist den Sozialwissenschaften, der praktischen Philosophie, der Erziehungswissenschaft und der Geschichte an; mit Joachim Starbatty ist nur ein Vollblutökonom dabei.
John Stuart Mill (1806 bis 1873) ist für Ökonomen einer der wichtigsten Klassiker, um die Entwicklung ihrer Disziplin zu verstehen. In seinen monumentalen "Principles" wird ein harter Kern ökonomischer Theorie durch methodologische Überlagerung, historische Illustrationen, Entwicklungsperspektiven, moralische Erwägungen, sozialistische Anwandlungen, feministische Kritik und keimende neoklassische Ideen vielfach ummantelt. Die "Principles" - in der Theorie bis in die Details ein abgeschwächter Ricardo, jedoch im Stil von Adam Smith - übergreifen die Fächer, wie es in derselben Epoche auch die historische Schule erstrebte. Mill schrieb auch kleinere, aber berühmte Werke über Utilitarismus, Liberalismus, repräsentative Regierung und die "Unterwerfung" der Frauen.
Unser Verständnis des Werkzusammenhangs beruht wesentlich auf Mills Autobiographie. Sie schildert, wie er streng von seinem Vater aufgezogen wurde. Schon mit drei Jahren wurde er im Griechischen unterrichtet; mit zwölf unterstütze er den Vater in dessen wissenschaftlicher Arbeit. Eine mentale Krise konnte nicht ausbleiben. Der rationalistisch erzogene Jüngling wurde von romantischer Dichtung ergriffen und fand, beflügelt von der Liebe zu der Frauenrechtlerin Harriet Taylor, teils engagiert, teils distanziert, den Weg zu emanzipatorischen Strömungen in verschiedenen Bereichen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er jedoch jahrzehntelang als höherer Angestellter der East-India Company, also in der indischen Kolonialverwaltung. Mit seinem Fortschrittsdenken rechtfertigte er die "despotische Herrschaft" über die "Barbaren", an der er mitwirkte, während er den Kolonien westlicher Siedler wie Kanada und Australien repräsentative Selbstregierung unter formaler britischer Oberherrschaft zugestand. Analog führte er in den Utilitarismus ein elitäres Element ein: Zwar sollte das Glück der großen Zahl gesucht werden, aber es gab ein höheres Glück durch höhere geistige Entfaltung im Sinne Wilhelm von Humboldts. "Ein geistiger Mensch soll sich nie unter die Ungeistigen mengen, es sei denn als Apostel", sagte er einmal in seiner Autobiographie.
Durch eine interessante Gliederung löst das Handbuch die schwierige Aufgabe, sich durch die verschiedenen Dimensionen des Werks hindurchzubewegen: Auf das Vorwort folgen ein Abriss der Biographie und im zweiten Teil neun Aufsätze über die Einflüsse auf Mill, die von Jeremy Bentham bis zur klassischen Nationalökonomie reichen. Teile III und IV fassen in willkürlicher Folge die Hauptschriften und einige kleinere zusammen. Teil V stellt in rund zwanzig Einzelaufsätzen zentrale Konzepte vor, wie "Arbeit" und "Bildung" oder "Parlamentarismus" und "Partizipation". Teil VI versucht in fünf Bereichen (Wissenschaftstheorie, Moralphilosophie, Liberalismus, Feminismus, Ökonomie), Mills Wirkung zu erfassen. Hier finden sich kräftige Wertungen, die ältere und aktuelle Ideale einander gegenüberstellen, etwa ein Lob von Barbara Holland-Cunz für Mills heute eher seltene Verbindung von Liberalismus und Feminismus oder Joachim Starbattys kritische Evaluierung von Mills sozialistischen Hoffnungen.
Das Buch hilft Ökonomen, über den Rand ihres Fachs zu blicken, und informiert über die für Mill charakteristischen Ausprägungen von Utilitarismus und Liberalismus. Wünschenswert wäre eine breitere Behandlung der antiken Wurzeln seines Denkens und seiner Deutung Platons gewesen. Fachlich einwenden kann man: Schon weil am Ende die aus Ricardos Akkumulationstheorie heraus entwickelte Vorstellung Mills vom Erreichen eines stationären Zustands eine wesentliche Rolle spielt, hätte am Anfang bei den "Einflüssen" Ricardos Wert-, Preis- und Profittheorie klarer und richtiger abgehandelt werden müssen. Es fehlt im Hauptteil viel bis zu einer adäquaten Erfassung von Mills eigenen ökonomischen Ansichten. War er nicht etwa Zeuge der bedeutendsten geld- und kredittheoretischen Debatte, die es je gegeben hat? Aber insgesamt handelt es sich bei diesem originellen und anregenden Handbuch um eine lobenswerte Unternehmung mit brillanten Facetten. BERTRAM SCHEFOLD
Frauke Höntzsch (Hg.): Mill-Handbuch.
Leben - Werk - Wirkung. J.B. Metzler,
Stuttgart 2024, 451 Seiten
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