Besprechung vom 06.10.2018
Abschied von der Kindheit
Die französische Autorin Annie Ernaux setzt mit "Erinnerung eines Mädchens" ihre literarischen Tiefenbohrungen in die Geschichte fort.
Von Sandra Kegel
Es gibt Menschen, die überwältigt werden von der Gegenwart anderer, von ihrer Art zu sprechen, die Beine übereinanderzuschlagen, eine Zigarette anzuzünden. Dann geht der Andere, man gefällt ihm nicht mehr, er hat das Interesse verloren. Er lässt einen mit der Wirklichkeit allein." So beginnt Annie Ernaux ihre literarische Erkundung der frühen Jahre, jener Zeit also, in der sie als Achtzehnjährige das erste Mal von zu Hause aufbricht, der strengen Mutter entkommt, als Betreuerin in einem Feriencamp arbeitet, sich verliebt. Der Band, Teil des fortlaufenden Erinnerungsprojekts der 1940 geborenen Französin, das freilich keine Individualgeschichte erzählen, sondern in einem individuellen Gedächtnis vielmehr das kollektive Gedächtnis finden und mit Leben füllen will - wie sie ihre Poetologie selbst einmal beschrieben hat.
Der Sommer des Jahres 1958 verläuft ohne meteorologische Besonderheiten. De Gaulle kommt zurück, der neue Franc und die Fünfte Republik werden eingeführt, Dalida singt "Mon histoire, c'est l'histoire d'un amour", und Tausende junger Franzosen werden nach Algerien geschickt, denn der bewaffnete Konflikt um die Unabhängigkeit ist in vollem Gange. Auch das Mädchen Annie Duchesne, Tochter aus bescheidenen Verhältnissen katholisch-bäuerlicher Prägung, deren Eltern einen Krämerladen in Yvetot in der Normandie führen, kämpft in diesem Sommer im Ferienlager von S im Departement Orne ihren ganz eigenen Unabhängigkeitskrieg.
Auf gewisse Weise dauert er bis heute an. Denn wenn Annie Ernaux, die schreibende Frau des Jahres 2014, sich an ihr früheres Ich erinnert, fragt sie zugleich: "Soll sie mit ihm verschmelzen?" Soll sie also zu diesem Ich zurückkehren, wenn sie sich jeden Tag aufs Neue an den Schreibtisch setzt, um die Erlebnisse aus dem Gedächtnis zu kramen, aus alten Fotografien, aus Briefen oder Google-Ergebnissen, die auf die Namenssuche nach Beteiligten von damals hin sich am Bildschirm auftun? Nein, Annie Ernaux will das "sie" von damals und das "ich" von heute trennen, um bei der Darstellung der Ereignisse bis zum Äußersten zu gehen; ganz so, als würde ein Fremder über sie schreiben. Denn erst, wenn sie sich von außen betrachtet, kann sie zugleich die Einflüsse durch Familie, Politik und Gesellschaft sichtbar machen. Weil das Ich hier kein auf Kausalität beruhendes Kontinuum darstellt, sondern ein in seinen Brüchen ganz wesentlich von außen geprägtes Sein.
In dieser mit rücksichtsloser Stringenz verfolgten Verschmelzung der Innen- und Außenperspektive liegt die literarische Eigenart und die Meisterschaft der Autorin. Denn mit ihr und gleichsam durch sie hindurch blicken wir auf Annie Duchesne fast wie auf eine Fremde, die da am frühen Nachmittag des 14. August aus dem Zug in ihre vermeintliche Freiheit steigt: "Ihr Haar ist zu straffen, länglichen Knoten zusammengebunden. Sie hat die dicke Brille auf, die ihre Augen kleiner macht, aber ohne würde sie alles nur verschwommen sehen." Die kleine Gestalt neben ihr ist ihre Mutter, die auch jetzt den der Tochter so vertrauten Gesichtsausdruck aus "Unsicherheit, Misstrauen und Unzufriedenheit" zeigt.
Annie Duchesne, die bislang ein Mädchenpensionat besucht hat und als behütetes Einzelkind auch daheim nur in Begleitung das Haus verlassen darf, die nicht weiß, wie man telefoniert, und die noch nie geduscht hat, diese junge Frau also kann es kaum erwarten, eine Liebesgeschichte zu erleben, die ihr bislang nur in der Literatur begegnet ist; "alles in ihr ist Begehren und Stolz". Doch als das Mädchen schließlich wenige Tage nach ihrer Ankunft in der Ferienkolonie tatsächlich einem Mann begegnet, der ihr Begehren weckt - "H, der Chefbetreuer, groß, blond, breitschultrig, mit kleinem Bauch" -, wird sie, getrieben von ihren Sehnsüchten und in völliger Ahnungslosigkeit von eben zu jetzt zum willenlosen Objekt einer brutal übergriffigen Gier. Sie hatten getanzt, als der Mann sie aufs Zimmer bringt, sie zum ersten Mal die eigene Nacktheit in Gegenwart eines Fremden erlebt, der ein ums andere Mal versucht, in sie einzudringen. Sie lässt ihn gewähren, hilf- und wehr- und ahnungslos.
In ihrer Erinnerung kann die Autorin "kein Gefühl finden, geschweige denn einen Gedanken" für das, was damals geschah: Das Mädchen auf dem Bett nimmt an dem Geschehen teil, mit ihr passiert, was es eine Stunde zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Es fühlt sich als "schuldiges Kind unter Kindern", und als die Achtzehnjährige im Folgenden von H ignoriert wird und sie Trost bei einer Freundin sucht, wird sie abgekanzelt: "Was? Nein! Wo haben wir denn zusammen Schweine gehütet?"
Wieder und wieder lässt Annie Ernaux die Szene vor ihrem inneren Auge ablaufen, und das Entsetzen darüber wird nicht kleiner. "Sie", die sie damals war, beschreibt die Autorin als verloren, als willenlose Puppe, der alles egal ist und die sich in ihrem Schmerz von anderen Männern ausziehen lässt. Die Frage, wie darüber zu schreiben wäre, ist auch fünfzig Jahre nach den Ereignissen noch nicht geklärt: "In welchem Modus - tragisch, poetisch, romantisch oder sogar humoristisch, was so schwer nicht wäre, soll ich erzählen?"
Buch für Buch betreibt Annie Ernaux eine Ethnologie ihrer selbst und unternimmt dabei zugleich Tiefenbohrungen in die jeweilige Epoche. Eine Absichtserklärung liefert sie mit: "Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt." Es ist das Paradox, von etwas zu erzählen, das nie wieder sein wird, und das zugleich fortwirkt, manchmal ein Leben lang.
Annie Ernaux: "Erinnerung eines Mädchens".
Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
163 S., geb.
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