Besprechung vom 03.03.2021
Sein amerikanischer Traum
Benedict Wells ist ein weltweit erfolgreicher deutschsprachiger Schriftsteller. Sein neuer Roman "Hard Land" ist in den Vereinigten Staaten angesiedelt, und alles wird dort gut.
Neunundvierzig Geheimnisse, heißt es in "Hard Land", habe die amerikanische Kleinstadt Grady, und neunundvierzig Nummern bilden die Kapitel des neuen Romans von Benedict Wells, der sich zur Gänze in dieser fiktiven Ortschaft mit ihren zwanzigtausend Einwohnern abspielt. Vier von ihnen bilden für elf Sommerwochen eine Clique: Kristie Andretti, Brandon Jameson, Cameron Leithauser und Sam Turner. Letzterer ist der Ich-Erzähler des Buchs, das Geschehen setzt kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag ein, die drei anderen sind zwei Jahre älter und stehen vor dem Abschied aus der Heimat; Studienplätze in New York, Los Angeles und Chicago warten bereits. Das ist doch etwas anderes als das ländliche Missouri. Aber was wird aus Sam, der gerade erst den Anschluss an die drei Älteren gefunden und sich damit über die familiäre Tristesse aus krebskranker Mutter und arbeitslosem Vater hinweggetröstet hat?
Das ist das handlungstreibende Geheimnis des neuen Wells-Romans. Darum wird er wieder weltweit viele Leser finden. Jeder dürfte in seiner Jugend ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie Sam, auch wenn die jeweiligen heimischen Begleitumstände hoffentlich weniger traurig waren. Die Freude über neue Freundschaften und die Erkenntnis ihrer Zerbrechlichkeit beim Übergang ins Erwachsenendasein sind eine anthropologische Konstante, deren Schilderungen ein eigenes Genre hervorgebracht haben, das auf den Namen "Coming of Age" hört. In "Hard Land" wird diese Erzählform literaturhistorisch zurückverfolgt bis zu einem Buch, das auch den Namen "Hard Land" trägt: einen 1893 veröffentlichten Gedichtzyklus von William J. Morris, den berühmtesten Sohn der Stadt Grady, dessen Werk dort denn auch zum obligatorischen College-Prüfungsstoff gehört. Natürlich hat sich Wells auch diesen literarischen Hintergrund ausgedacht - bis hin zu ganzen Passagen aus der schwülstigen Morris-Lyrik, die übrigens auch den Mythos der neunundvierzig Stadtgeheimnisse in die Welt gesetzt hat.
Das größte Geheimnis des realexistierenden Romans "Hard Land" ist indes, wie es Benedict Wells als Schriftsteller des Jahrgangs 1984 gelungen ist, eine Jugendgeschichte aus dem Jahr 1985 so zu erzählen, dass man selbst als ungefährer Altersgenosse der Protagonisten nur staunen kann über die Authentizität des von ihnen Erlebten - vor allem, was das kulturelle Klima jener Zeit angeht (die Musik natürlich, der Niedergang der kleinen Kinos, das politische Desinteresse). Dazu kommt der amerikanische Handlungsort. Nur der Sprache, dem konsequenten Gebrauch etwa von eingedeutschten Hollywood-Filmtiteln oder einigen Redewendungen, die man niemals aus dem Munde amerikanischer Jugendlicher vernommen hätte, merkt man bisweilen doch an, dass dieser Roman von einem Deutschen stammt. Seit einigen Jahren weiß man, dass Benedict Wells aus einer Familie stammt, die mit Ferdinand von Schirach auch einen weiteren erfolgreichen Schriftsteller hervorgebracht hat - dass Wells seinen Namen ändern ließ, hat natürlich nachvollziehbare andere Gründe.
Dieses Buch ist also in vielerlei Hinsicht ein amerikanischer Traum seines Verfassers, und das gilt auch für die hoffnungsvolle Stimmung - trotz dem Schicksal von Sams Mutter, deren Tod der Erzähler gleich im ersten Satz mitteilt. Aus dem Abstand eines Jahres blickt er auf den Sommer 1985 zurück, seine Stimme ist also immer noch die eines Halbwüchsigen, dem im deprimierendsten Moment angesichts des absehbaren Zerfalls seiner Clique nicht mehr einfällt als "Die zwei Wochen bis zur Abfahrt meiner Freunde waren seltsam". Doch das ist eine Scheinnaivität, denn Wells lässt Sam auch gewitzte Feststellungen machen wie "Wenn die First Base Küssen war und der Home Run Sex, dann saß ich noch in der Umkleidekabine und band meine Schuhe". Da kommt dem Verfasser die eigene Sympathie für seinen Erzähler in die Quere. Die Simulation der relativen Unmittelbarkeit von Sams Eindrücken ist das Einzige, was Wells in seinem Roman misslingt, gerade weil er die Erzählsituation ohne erkennbaren ästhetischen Grund auf ein Jahr danach verlegt.
Dafür gelingt ihm eines der schönsten Comebacks innerhalb einer Geschichte, nachdem man sie als Leser auf Seite 265 abgeschlossen wähnen durfte mit dem Satz "Und das war das letzte Mal, dass wir alle vier zusammen waren". Aber es folgt noch ein sattes Fünftel der Handlung, das über den Sommer hinauserzählt und eine Wendung nimmt, die wie eine Kompensation all der von Sam und seinen Freunden geliebten amerikanischen Filme und Lieder wirkt, die melancholische Abgesänge aufs Jungsein geliefert haben: Bogdanovichs "Last Picture Show", Lucas' "American Graffiti", Springsteens "The River" und noch so manchen anderen Song des "Boss" - selbstverständlich auch "This Hard Land"! - , dessen Musik die einzig erlaubte Klangkulisse im Bruce-Mobil darstellt, dem Pick-up von Brandon Jameson.
Leider bleibt dieser kleinstädtische Star der örtlichen College-Footballmannschaft die blasseste Figur des Quartetts. Als schwarzer Sohn eines weißen Adoptivvaters hegt Brandon nicht nur eine überraschende Vorliebe für Springsteen als Inbegriff weißer Rockmusik, er hat offenbar auch keinerlei Ressentiments im früheren Konföderierten-Staat Missouri erfahren. So konsequent, wie Wells die gesellschaftliche Wirklichkeit der Reagan-Jahre in seinem Roman ausblendet, ist auch das ein amerikanischer Traum. Aber wer sagt denn, dass wir bisweilen nicht gelegentlich von Literatur ins Träumen gebracht werden wollen? Womöglich ist das nicht einmal ein Geheimnis. Jedenfalls nicht für Benedict Wells.
ANDREAS PLATTHAUS
Benedict Wells: "Hard Land". Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2021. 344 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.