Ein Langboot stürzt im Wildwasser des Weißen Flusses den Großen Fall hinab. Fünf Menschen ertrinken. Der Schleusenwärter, als »Fallmeister« ein Herr über Leben und Tod, hätte dieses Unglück verhindern müssen. Sein Sohn glaubt nicht an einen Unfall: Ist sein jähzorniger, von der Vergangenheit besessener Vater zum Mörder geworden? Wie der Fallmeister ist auch sein Sohn mit der Macht des Wassers vertraut. Er arbeitet als Hydrotechniker an den großen Strömen dieser Erde, um die Wasserkriege geführt werden, und durchquert auf der Suche nach der Wahrheit und seinem nach dem Unglück verschollenen Vater ein in größenwahnsinnige Kleinstaaten zerfallenes Europa. Größenwahnsinnige Herrscher ziehen immer engere Grenzen und führen Kämpfe um die Ressourcen des Trinkwassers.
Bildmächtig und mit großer Intensität erzählt Christoph Ransmayr von einer bedrohten Welt und der menschlichen Hoffnung auf Vergebung.
Besprechung vom 23.03.2021
Anschreiben gegen die Gischt
Die flüssigen Hände der Schwester: Christoph Ransmayrs Roman "Der Fallmeister" erzählt von der Welt nach dem Klimawandel. Und wie man als Autor dem Wasser Konkurrenz macht.
Zwei mächtige Bilder hat der alte Fallmeister vor seinem Verschwinden im "Weißen Fluß" hinterlassen, zwei öffentliche Auftritte, an die man sich noch lange erinnern wird. Der eine brandmarkt ihn als Mörder von fünf Menschen, die mit einem Kahn untergegangen sind, der in einem hölzernen Kanal eigentlich sanft eine wilde Stelle des "Weißen Flusses" umschiffen sollte. Aufgabe des Fallmeisters war es, den Wasserzufluss in diesem Kanal beständig, aber eben nicht zu kräftig zu gestalten. Weil unter seiner Aufsicht eine urplötzliche starke Strömung das Boot zum Kentern brachte, beginnt "Der Fallmeister", Christoph Ransmayrs morgen erscheinender Roman, mit den Worten: "Mein Vater hat fünf Menschen getötet."
Der Erzähler, der Sohn des Fallmeisters, lässt diesem strikten Auftakt dann im Verlauf des Romans zahlreiche Beobachtungen folgen, die dieser Sicherheit entgegenstehen. Was ist beispielsweise mit der Kette, die im Moment des Unglücks in der Schleusenkonstruktion reißt und dem Vater das Handgelenk zerschmettert? Geschah das beim Versuch des Fallmeisters, das Unglück zu verhindern? Der Vater des Erzählers trägt jedenfalls vom Reißen der Kette eine auffällige Narbe davon, sichtbar noch beim zweiten Auftritt, der sich ins Gedächtnis seiner Umgebung brennt. Ein Jahr nach dem Unglück treibt er fast regungslos in einem ähnlichen Kahn auf den großen Wasserfall zu und versinkt in den Fluten. An seinem Tod zweifelt niemand, obwohl seine Leiche nie gefunden wird - einen solchen Sturz kann niemand überleben.
Allerdings wird auch diese Sicherheit erschüttert. Der namenlose Erzähler, der als Hydrotechniker auf allen Kontinenten beschäftigt ist, nutzt eine Auszeit zwischen zwei Arbeitsstationen, um in dem seit dem zweiten Unglück verlassenen Fallmeisterhaus am Weißen Fluss nach dem Rechten zu sehen. Auf einer "Mesopotamien" genannten Insel im Strom findet er einen abgerissenen Arm, dessen Hand ein Paddel noch umklammert hält. Versehen ist sie mit der auffälligen Narbe des Vaters. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass der Arm eine Replik aus Lehm ist und der vermeintliche Selbstmord des Vaters eine Täuschung - offensichtlich hatte der Fallmeister eine ihm gleichende Lehmfigur in ein Boot gesetzt und ihrem Untergang zugesehen, um heimlich zu verschwinden. Wohin, ahnt sein Sohn nicht.
Spätestens an diesem Punkt der Handlung ist klar, dass es in dem schmalen Roman, dessen Text gut 200 großzügig bedruckte Seiten einnimmt, nicht nur um die Familie des Fallmeisters geht, die außer ihm und dem Erzähler noch seine Frau Jana und die Tochter Mira umfasst, mit der sich der Erzähler durch eine rauschhafte Liebeserfahrung auf der Insel Mesopotamien verbunden glaubt: "Ihre Fingerkuppen trippelten und liefen, glitten, rannten über alle Senken und Ebenen, Höhlungen und Verstecke meines Körpers dahin", heißt es, als wären Miras Hände flüssig.
Auf jeder Seite werden Bilder entworfen und herbeizitiert, die Mythen der menschlichen Zivilisation berühren, und dies manchmal in erschlagender Fülle. Etwa in Paradiesvorstellungen auf der Insel zwischen Euphrat und Tigris, der Verlust der Unschuld, das Formen eines Menschen aus Ton, wie überhaupt aus dem Flusslehm allerlei täuschend echte Lebewesen geformt und am Ufer des Stroms hinterlassen werden. Oder wenn der Erzähler, der seiner Schwester - er sieht sich mit ihr als inzestuöses Geschwisterpaar, als Pharao und Pharaonin - nacheilt und sie schließlich auf einer Art Leuchtturm mitten in der Nordsee findet. Und schließlich auch bei dem ausführlich geschilderten Naturphänomen von Flüssen, die periodisch ihre Richtung ändern, wenn ihnen zufließendes Wasser entgegensteht.
Dies vor allem, der Richtungswechsel des Wassers, gibt einen Schlüssel zum Verständnis des Romans vor. Denn wo üblicherweise ein Fluss von der Quelle zum Meer als Bild für die nicht zufällig "verrinnende" Zeit dient, da wird hier auf die gewaltsame Rückkehr in die Vergangenheit gezielt und der Fallmeister, der Wächter über den Weißen Fluss, hinter dem man eine Art Donau vermuten kann, kaum zufällig als ein Mann geschildert, der die Gegenwart hasst und den Zeitläuften jedenfalls nicht folgen will.
Aus der Perspektive des Romans, der etwa zweihundert Jahre in der Zukunft spielt, ist eine solche Abkehr nur zu verständlich. Ransmayrs Erzähler, als Spezialist für Wasserbau ein hochbegehrter Mitarbeiter international agierender Konzerne, schildert eine Welt, deren politische Systeme in kleine Einheiten zerfallen sind und so den mächtigen Syndikaten nichts entgegenzusetzen haben. Der Klimawandel bringt Überschwemmungen und Stürme hervor, zugleich ist das Trinkwasser knapp, und die Allerweltsprognose, dass die Kriege der Zukunft ums Wasser geführt würden, ist hier vollständig eingetroffen, ergänzt allerdings um terroristische Anschläge auf die knappe Ressource - das Vergiften von Trinkwasservorräten scheint hier bereits traurige Wirklichkeit.
Dies allerdings nur so weit, wie wir dem Erzähler trauen können. Dass seine Ansichten und Überzeugungen immer wieder durch die Realität in Frage gestellt werden, zieht sich durchs Buch und hat sich mit den Jahren geradezu als Konstante von Ransmayrs Erzählen etabliert. Dass er es tosen hört in seinem Kopf, sagt der Hydrotechniker häufiger, und dass es um seine Kommunikation mit anderen nicht zum Besten steht, teilt sich auch rasch mit - lieber, als mit Menschen zu reden, schreit er gegen das Geräusch reißender Ströme an.
An solchen Stellen kommt der Roman, der seine Bilder bisweilen leider ärgerlich deutlich auslegt, zu sich selbst. Denn so, wie es darin eigentlich um eine faszinierte Darstellung des Wassers in all seinen Erscheinungsformen geht, um Landschaften, die von ihm geformt und bestimmt sind, um Strömungen und Rinnsale, um Meereswogen und Stauseen, und so seltsam blutleer viele der Figuren dieses an nur wenigen von ihnen interessierten Erzählers wirken, so eindeutig tritt dieser Erzähler in Konkurrenz zum Wasser, wenn es um sein Handwerk geht.
Auf der Handlungsebene besteht es darin, dem Wasser seinen Weg zu weisen, Kanäle und Dämme anzulegen. Umgekehrt schmiegt er sich ihm aber im Handwerk des Erzählens an, so lange, bis er sich selbst mit Wassermetaphern belegt, wenn er sich durch ein zerfallenes "Scherbenland" Europa auf die Küste zubewegt. "Die Unaufhaltsamkeit meiner Reise ans Meer" erinnert ihn "an die Strömungsgeschwindigkeit eines seiner Mündung entgegendrängenden Fließgewässers", und noch im allerletzten Satz des Romans nennt er sich "unbeirrbar wie ein Rinnsal". Er schreibt in den Sand, die Wellen löschen seine Worte aus. Und bietet dem Element mit seinem Roman doch ausdauernd die Stirn.
TILMAN SPRECKELSEN
Christoph Ransmayr: "Der Fallmeister". Eine kurze Geschichte vom Töten.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2021. 224 S., geb., 22,- [Euro].
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