Besprechung vom 21.07.2022
Löwenblut tut es doch auch
Liebesnacht mit dem Doppelgänger: Die Orientalistin Claudia Ott hat schon viele Teile von "Tausendundeiner Nacht" ins Deutsche gebracht. Nun legt sie einen neuen Band vor, "Das Buch der Liebe". Es ist spannend, romantisch, grausam - und ungemein komisch.
Ein Dämon trifft auf eine Dämonin, nachts, beim Flug in irgendeine abscheuliche Höllenregion. Sogleich geraten sie in Streit: Die Dämonin erzählt von dem jungen schlafenden Prinzen Kamarassaman, den sein Vater in einem alten Gemäuer gefangen halte und der unvergleichlich schön sei, schöner jedenfalls als jene Prinzessin Budur, die weit entfernt, ebenfalls schlafend und streng bewacht, in einem abgelegenen Schloss liegt und von der wiederum der Dämon in den höchsten Tönen schwärmt. Der Streit eskaliert, in Worten ("Wer ist sie schon, diese Pinkelflasche", motzt die Dämonin) und in Taten, und so beschließen die beiden Geister, dass es nur ein Mittel gibt, die Sache zu entscheiden: Die schlafende Prinzessin wird durch die Luft getragen und neben den Prinzen gelegt, um den direkten Schönheitsvergleich zu ermöglichen. Das allerdings geht unentschieden aus, weil weder die Dämonin noch der Dämon seinen Schwarm hintanstellen will.
Der lautstarke Streit - es ist ein Wunder, dass das bildschöne Paar nebeneinander weiterschläft - eskaliert, ein Schiedsrichter wird gerufen, der hässliche Dschinn Kaschkasch. Er rät dazu, die beiden Hübschen selbst entscheiden zu lassen: Wer von beiden dem anderen größere Leidenschaft entgegenbringe, der solle als Verlierer gelten. Also wird auf magische Weise der Schlaf der Prinzessin vertieft und der Prinz durch einen Flohbiss geweckt. Er verliebt sich auf der Stelle, glaubt sich aber durch seinen Vater heimlich beobachtet und hält sich mit Liebkosungen zurück. Er schläft wieder ein, die Dämonen wecken nun die Prinzessin - und just an dieser Stelle bricht das berühmte Manuskript von "Tausendundeiner Nacht" ab, das nach ihrem ehemaligen Besitzer heute "Galland-Handschrift" heißt und als Vorlage für jene französische Edition diente, durch die das Abendland um 1700 von dem großartigen orientalischen Erzählwerk erfuhr.
Das klingt fast wie einer der Cliffhanger, die ein unverzichtbares Merkmal dieser Sammlung sind. Denn in der Rahmenhandlung erzählt die kluge Schahrasad bekanntlich Geschichten, um zu überleben - nur wenn sie spannend genug sind, wird der pauschal von den Frauen enttäuschte König sie verschonen und ihr nicht, wie all den anderen vor ihr, am Morgen nach der Hochzeitsnacht den Kopf abschlagen lassen. Also gilt es, in der Dämmerung des neuen Tages just an einem Punkt angelangt zu sein, der die Lust auf eine Fortsetzung übermächtig werden lässt. Und weil auf den König dabei nicht immer Verlass ist, hilft Dinarasad weiter, Schahrasads Schwester, die mit den beiden das Gemach teilt. "Wie köstlich und wie aufregend ist deine Geschichte!", sagt sie dann gern, und Schahrasad antwortet: "Was ist das schon gegen das, was ich euch morgen Nacht erzählen werde, wenn ich dann noch lebe und mich der König verschont."
Die Orientalistin Claudia Ott hat seit knapp zwanzig Jahren immer wieder besondere Handschriften aus dem Umfeld von "Tausendundeiner Nacht" übersetzt, so etwa erstmals die Galland-Handschrift aus dem arabischen Original oder vor sechs Jahren ein Manuskript, unter dem deutschen Titel "Das glückliche Ende", in dem ganz wunderbar geschildert wird, wie der misogyne König von Schahrasads Geschichten allmählich umerzogen wird, so dass er schließlich die eigene frühere Verblendung erkennt - nicht, wie in anderen Fassungen, weil sie inzwischen einige seiner Kinder zur Welt gebracht hat, sondern durch die Gewalt ihrer beispielhaften Erzählungen.
Tatsächlich wird man bei diesem Werk immer von höchst unterschiedlichen Fassungen ausgehen, denen kein Original entspricht - bestimmend ist der Rahmen, die Erzählsituation, die von Unterbrechungen, Einschüben und Unter-Einschüben gekennzeichnete Form, nicht aber der Inhalt, der in jeder Fassung anders ist. So verdanken sich einige der beliebtesten Märchen der Sammlung nicht etwa einem jahrhundertealten Manuskript, sondern der schieren Not des Übersetzers und Herausgebers Antoine Galland, der den Hunger des französischen Publikums nach weiteren Geschichten stillen wollte und - nach dem Abbruch seiner Vorlage mit der 282. Nacht - nicht wusste, wie: Der aus Aleppo stammende und in Paris lebende syrische Christ Hanna Diyab half ihm mit "Aladdin" oder "Ali Baba und die vierzig Räuber" aus der Patsche.
Nun hat Claudia Ott mit "Tausendundeiner Nacht: Das Buch der Liebe" einen weiteren Band mit Übersetzungen vorgelegt, der einmal mehr die komplizierte Überlieferung einzelner Stoffe unterstreicht. Einige von ihnen, die hier versammelt sind, stammen aus mehreren Vorlagen und ergeben zwar eine fortlaufende Geschichte, aber um den Preis von sichtbaren Brüchen - so folgt hier auf die 267. Nacht die 106., auf die 108. die 274., und auch die regelmäßig wiederkehrenden Formeln, etwa diejenige, die den Abbruch im Morgengrauen und die Wiederaufnahme der Geschichte in der nächsten Nacht einleitet, sind keineswegs immer dieselben, was die Übersetzung klugerweise auch nicht nivelliert. Im Gegenteil: Jeder Band in der Reihe von Otts Übertragungen belegt ihr Credo, dass es einen zusammenhängenden, einheitlichen, gar 1001 Nächte umfassenden Text nur geben kann, wenn man ihn durch Bearbeitung erzeugt.
Das gilt auch für die einzelnen Texte des neuesten Bandes, die sich jeweils als offene Form erweisen und gerade deshalb deutlich sichtbare Brüche zeigen: Der erste und längste von ihnen, ebendie Geschichte der beiden wunderschönen Liebenden, die von den Dämonen nebeneinandergelegt werden, nimmt knapp die Hälfte des Bandes ein, zerfällt dabei aber in zwei fast unabhängig zu lesende Märchen. Das erste schildert, wie sich die beiden nach jener Nacht, an deren Ende die Dämonen die Prinzessin wieder in ihr eigenes Bett befördern, entsetzlich vermissen und ihre jeweilige Umgebung tyrannisieren, bis sie durch wunderbare Fügungen einander doch bekommen, allerdings unter Hinzufügung einer zweiten Frau, die Prinz Kamarassaman neben Budur auch noch heiratet.
Dann gibt es einen lapidar angezeigten Zeitsprung von zwanzig Jahren, und das zweite Märchen beginnt. Die beiden Frauen haben inzwischen je einen Sohn bekommen und verlieben sich überkreuz in den Sohn der anderen. Die weisen diese Avancen entsetzt zurück, werden verleumdet und sollen hingerichtet werden. Ein treuer Diener bringt sie in die Wildnis, um ihnen die Köpfe abzuschlagen, dann aber reißt sich sein Pferd los und rennt in den Wald, der Diener rennt hinterher, denn das Zaumzeug war teuer, dort springt ein Löwe aus der Kulisse, und die Prinzen, die sich aus ihren Fesseln befreit haben, kommen herbei und retten dem Diener das Leben. Vom Hinrichten ist keine Rede mehr, statt ihrem Blut präsentiert der Diener seinem Herrn das Blut des Löwen, und für die Prinzen beginnt ein langes Abenteuer.
Ott scheut sich in ihrer Übersetzung nicht, den zarten Tönen der eingestreuten Liebesgedichte auch derbe in der eigentlichen Erzählung beizugeben; sie reizt die immanente Komik aus und lässt ein Paar, das sich auf der Straße kennenlernt und sofort in Liebe entbrennt, fragen: "Gehen wir zu mir oder zu dir?" Sie vertuscht nicht die Grausamkeit der Protagonisten, blendet nicht ab, wenn es um den Liebesrausch geht, lässt Jähzorn gelten und Köpfe rollen, und so wirkt der Text in Otts Übersetzung weit lebendiger und gegenwärtiger als in denen vieler ihrer Vorgänger, was sie zudem mit einem erfreulich klaren Nachwort begleitet.
Wer schöner ist, Kamarassaman oder Budur, verrät der Text nicht, sondern betont lieber, wie ähnlich sich die beiden sind. Irgendwann schlüpft die Prinzessin in die Kleider ihres Mannes und spielt seine Rolle so gut, dass er selbst das nicht erkennt. Die folgende Liebesszene ist wohl die lustigste der ganzen Märchensammlung. Jedenfalls so lange, bis Claudia Ott nicht eine noch lustigere ausgräbt. TILMAN SPRECKELSEN
"Tausendundeine Nacht: Das Buch der Liebe".
Aus dem Arabischen und hrsg. von Claudia Ott. Verlag C. H. Beck, München 2022. 543 S., geb.
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