Nach " Der Circle" kommt jetzt die digitale Weltherrschaft: " Every"
Der Circle ist die größte Suchmaschine gepaart mit dem größten Social-Media-Anbieter der Welt. Eine Fusion mit dem erfolgreichsten Onlineversandhaus steht an, woraus das reichste und gefährlichste seltsamerweise auch beliebteste Monopol aller Zeiten entsteht: Every.
Delaney Wells ist »die Neue« bei Every und nicht gerade das, was man erwarten würde in einem Tech-Unternehmen. Als ehemalige Försterin und unerschütterliche Technikskeptikerin bahnt sie sich heimlich ihren Weg, mit nur einem Ziel vor Augen: die Firma von innen heraus zu zerschlagen. Zusammen mit ihrem Kollegen, dem nicht gerade ehrgeizigen Wes Kavakian, sucht sie nach den Schwachstellen von Every und hofft, die Menschheit von der allumfassenden Überwachung und der emojigesteuerten Infantilisierung zu befreien. Aber will die Menschheit überhaupt, wofür Delaney kämpft? Will die Menschheit wirklich frei sein?
Besprechung vom 03.10.2021
Subtil ist hier nichts
Dave Eggers schreibt mit seiner Fortsetzung von "Der Circle" die Gruselfantasie eines Kulturpessimisten
Wenn man Filterblasen und Cancel Culture für gefährlich hält und Twitter und Facebook manchmal die asozialen Medien nennt, dann stehen die Chancen gut, dass man Dave Eggers' neues Buch "Every" als treffende Warnung vor der Tech-Welt lesen wird. In der Fortsetzung des 2013 erschienenen Bestsellers "Der Circle", in einer nahen Zukunft nach der zweiten Pandemie, ist das Realität geworden, was manche schon jetzt als Realität empfinden: Shaming-Apps haben Gerichte ersetzt, Algorithmen manipulieren die User, allgegenwärtige Kameras disziplinieren Verhalten und Sprache, und aus Angst vor "woker" Kritik traut sich niemand mehr, eine Idee zu äußern. Man sitzt zu Hause, streamt die Leben der anderen, wird von Lieferdiensten versorgt, und geht man doch raus, dann in eine Welt, die katalogisiert ist und bewertet, jede Unsicherheit minimiert.
Man kann "Every" aber auch gegen die offensichtlichen Absichten des Autors lesen. Dann ist dieser Roman keine Parodie mehr auf die selbst beseelten Techies in Kalifornien, sondern, im Gegenteil, eine Parodie auf die Gruselfantasien eines älteren, kulturpessimistischen Autors, der den Verfall der Menschheit mit seinen eigenen Affekten verwechselt. Man darf misstrauisch werden, wenn ein Autor wie Eggers einen fiktiven Internetkonzern zum Schauplatz zweier Romane macht und in Interviews berichtet, er habe kein WLAN zu Hause.
Die Geschichte von "Every" schließt ans Vorgängerbuch an. Nach dem Kauf eines E-Commerce-Riesen, "der nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war", hat sich der Facebook-ähnliche Circle in das noch totalitärere Digitalunternehmen Every umbenannt. Es wickelt 82 Prozent aller Onlineeinkäufe ab und führt für viele Länder die Wahlen durch - einen Zettel in eine Urne zu werfen ist völlig veraltet. Livestream-Kameras an fast jedem Ort haben die Kriminalität drastisch reduziert. Seit die Every-App TruVoice Chats und Face-to-Face-Interaktionen auf Tabuwörter durchsucht und korrigiert, hat sich der Ton vieler Gespräche verbessert. Im gläsernen CEO-Büro der Every-Zentrale sitzt jetzt Mae Holland, die Hauptfigur des "Circle"-Buchs. Damals war sie noch eine etwas naive Mittzwanzigerin, die alle Warnungen, ihr Traumarbeitgeber könne womöglich eine menschenverachtende Allmachtsmaschine sein, übersah und als "erste vollkommen transparente Mitarbeiterin" ihr Leben per Bodycam streamte und so zur Vorzeigechefin aufstieg: das allen bekannte, total offene Every-Gesicht.
Wie in "The Circle" schickt Eggers auch in der Fortsetzung wieder eine Neue als Heldin auf den diskriminierungs- und nussfreien Campus von Every: Delaney Wells, 32. Aus ihrer Perspektive lernt der Leser das Unternehmen und seine sendungsbewussten, superreflektierten Angestellten kennen, die auf dem Campus unter Dauerbeobachtung arbeiten. Alles wird aufgezeichnet, jede bewertet jeden. Everys Firmenphilosophie "Teilen ist Heilen" lässt sich als mindestens sanfter Zwang verstehen.
Delaney kommt als Saboteurin zu Every, sie hasst Mae (die "Everyones" nennen sich beim Vornamen) und will die Manipulation und Massenüberwachung gehorsam-bequemer Mitmenschen beenden. Radikalisiert hat sich Delaney bei einer College-Dozentin, die ihre Studierenden vor der bereitwilligen Aufgabe ihrer Freiheit warnte. Nach dem College flieht Delaney vor Everys Tracking-Geräten in die Natur und wird Rangerin in einem Nationalpark, doch "auch diese letzte Bastion der Freiheit" wird vernetzt. In den Park darf nur, wer ein Smartphone hat, zur Ortung im Notfall. In dem Moment wird Delaney für Mae und Every das, was der Name Delaney auf Irisch bedeutet, eine "dunkle Herausforderin": "Sie blickte hinunter auf die vereinzelten Gebirgsseen am Fuß des Berges und entschied sich für den Krieg."
Subtil ist hier nichts. Noch vor dem ersten Kapitel schlägt Eggers mehrere Untertitel für das Buch vor, darunter: "Die letzten Tage des freien Willens". Mit leitartikelähnlichen Briefen warnt Delaneys ehemalige Dozentin sie (und das Publikum) vor Everys totalitärem Anspruch. Weniger einen Roman hat Eggers geschrieben als einen Kommentar, fast eine Parabel. Es wird sofort klar, wer gut ist und wer böse. "Hans-Georg war vertrauenswürdig, ehrlich", denkt Delaney über einen Kollegen, und dann stimmt das auch. Die Symbolik ist überdeutlich, das Offensichtliche kommentiert Eggers mit sprechenden Namen und Accessoires. Immer wenn ein Zottelbart in Lederweste auftaucht, jemand "Fight the Power" hört oder aus einer angeschlagenen Teetasse trinkt, kann man absolut sicher sein, dass es sich um einen guten Charakter handelt. Denn das Gute ist wild und ungezähmt, real, gegenüber der sauber gerankten Onlinewelt. Freie Menschen brauchen keine Rating-Scores und müssen nicht zum besten Verhalten manipuliert werden, sie können Ambivalenz aushalten und sich allein ihren Teil denken, heißt es immer wieder im Buch. Umso kurioser, dass Eggers seinem Publikum kaum Ambivalenz zutraut.
Nun darf man einem Autor, der witzig schreiben kann und anziehende Charaktere erfunden hat, Absicht unterstellen, wenn er auf Charakterentwicklung verzichtet und seinen Figuren drei Adjektive als Beschreibung anpappt. Womöglich bleiben die Everyones so ununterscheidbar, weil Individuen wirklich egal für das Unternehmen sind. Vermutlich reden sie genau gleich, weil TruVoice ihre Sprache normiert hat und sie nichts Falsches sagen wollen. Aber das Ergebnis ist, dass einem sogar die Heldin Delaney fremd bleibt, auch weil sie eine dermaßen reine Motivation hat: Als Superheldin kämpft sie allein für die Menschheit.
Den fortschrittsgläubigen Everyones jubelt Delaney eine Idee für eine neue App unter, so gestört anmaßend, dass die Menschen aufbegehren müssen. Unterstützt wird sie von ihrem Freund Wes; einer der Trogs, so heißen die letzten Tech-Skeptiker, die in schmutzigen TrogTowns leben, wo keine Kameras und Shaming-Apps für Reinheit sorgen. Mit Wes erfindet Delaney AuthentiFriend, eine App, die aus Muskelkontraktionen im Gesicht des Gegenübers seine wahren Empfindungen analysiert. Doch statt zur Revolution führt Everys neues Produkt bloß zu einem leichten Anstieg der Scheidungen. Delaney wird radikaler.
Wenn man "Every" trotzdem bis zum Ende liest, dann wegen des Cliffhangers: Klar will man wissen, welche obszöne Idee einen Tech-Giganten zum Implodieren bringen könnte. Auf dem Weg dahin wirkt aber die Künstliche Intelligenz immer verlockender, die Everyones nutzen, um sich Chat-Nachrichten aufs Wesentliche einkürzen zu lassen. Überhaupt ist das der interessanteste Effekt des Buchs: Dass man diese verblendete, überkorrekte Digitalkultur, wenn nicht sympathisch, dann doch anziehend findet. Die Alternative ist zu öde. Wer will mit Eggers' ungezähmten Trogs am Lagerfeuer sitzen und in ihrem Bierschweiß alte Punkmusik hören? Seine idealisierten Tech-Skeptiker haben eine verwelkende Kultur und keine Vision.
Dagegen wirkt die "enge und farbenfrohe Sportkleidung", die auf dem Every-Campus Frauen wie Männer tragen, damit man bei allen gleich viel sieht, auf einmal wenigstens anders. Neu. Eine beliebte Every-App heißt "Are You Sure?", vor umweltschädlichen Käufen schlägt sie Usern schonende Alternativen vor. Dass die Politik den Klimawandel bekämpfen oder irgendeine Großaufgabe lösen könnte, glaubt niemand mehr. Die Probleme der App sind offensichtlich: Marktmacht, Überwachung, Verhaltensmanipulation. Aber wenn politischer Fortschritt so weit entfernt erscheint, wirkt technischer Fortschritt umso verlockender. Wenigstens bei etwas vorn dabei sein.
Falls das also Dave Eggers' hintersinniger Plan gewesen sein könnte, falls er mit diesem apokalyptisch-raunenden Dystopie-Thriller zeigen will, wie bereitwillig man auf den "Everywhere" genannten Campus übersiedeln und wie naiv sofort Everys Apps nutzen würde, dann ist er aufgegangen. Nowhere nennen die Everyones die alt-analoge Welt: Dort passiert nichts. Das ist Größenwahn, aber deswegen muss es nicht falsch sein. Florentin Schumacher
Dave Eggers, "Every". Aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch, 592 Seiten
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