Besprechung vom 19.07.2019
Die Spürhunde des Klimawandels
Eine junge deutsche Forscherin erzählt, wie der Mensch dafür sorgt, dass das Wetter immer öfter verrücktspielt. Die politischen Folgen sind einschneidend.
Wie viel Klimawandel steckt in unserem Wetter? Das ist die Gretchenfrage der Klimatologie. Wann immer eine wetterbedingte Katastrophe für Schlagzeilen sorgt, weil sie Leben fordert oder auch nur riesige Kosten verursacht, steht sie wie der Elefant im Raum. Jahrzehntelang geht das schon so, es mussten hitzige und auch schmutzige Debatten geführt werden um lückenhafte Computermodelle und um die Seriosität der Klimaforschung, kurz: Es wurde viel klimapolitisches Porzellan zerstört, bis endlich die Chance auf eine solide Antwort gegeben war. Genauer: bis das mathematische Werkzeug gefunden war, die Beteiligungsfrage des Klimawandels seriös anzugehen. Die wissenschaftliche Lösung lautet Attribution - übersetzt: Zuordnung. Im Jahr 2004 wurde die Attributionsforschung entwickelt, und sie hat, wie Friederike Otto in ihrem Buch selbstbewusst schreibt, die Klimaforschung "revolutioniert". Das ist vielleicht etwas hoch gehängt, die konventionelle Klimamodellierung wurde weder aus den Angeln gehoben noch unwichtig; aber tatsächlich hat die Attributionsforschung wissenschaftlich etwas angeschoben und politisch eine Wirkung erzielt, die alle überrascht hat.
Im Grunde liefert die Attributionsforschung in den scharfen Klimaprotesten der Gegenwart die entscheidenden Argumente, endlich zu handeln. Mit ihr ist eine ganz neue Beweisführung möglich, aus Korrelationen sind nun computergenerierte Kausalitäten geworden. Für die Forschung war das ein klimapolitischer Einschnitt: Aus einer vorwiegend defensiven schlüpfte sie nun in eine offensive Rolle. Plötzlich konnte man nach jedem Extremwetter gezielt den Fingerabdruck des Klimawandels suchen. Die Wissenschaft wurde nun endgültig vom Beisitzer zum Kronzeugen der Anklage. Die Schuldfrage der Weltklimakrise lässt sich nun mit mathematischen Mitteln angehen.
Die in Kiel geborene Friederike Otto war von Beginn an eine treibende Kraft in der Attributionsforschung. Die junge Wissenschaftlerin war zuerst am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung tätig und wechselte dann an die Oxford-Universität, wo sie heute das Environmental Change Institute leitet. An der Seite des damals schon bekannten britischen Klimaforschers Myles Allen hat sie innerhalb weniger Jahre die Fingerabdruck-Methode wissenschaftlich zur Serienreife gebracht. Von den 190 Fällen an Extremwetter - Hitzewellen, Dürren, Extremregen und Überschwemmungen -, die ihre Gruppe bis zur Endfassung des Buchs bereits untersucht hat, soll der Klimawandel etwa zwei Drittel verstärkt oder zumindest wahrscheinlicher gemacht haben.
Wie es genau dazu kam, solche Aussagen auf wissenschaftlicher Basis treffen zu können, bereitet Otto für jeden sehr nachvollziehbar auf. Klar ist sie dabei auch Partei, Otto ist auch Philosophin und meinungsfreudig. Ihre Leidenschaft für eine entschlossene Klimapolitik ist nicht zu überhören, aber sie ist nie dominant. Viel auffälliger ist Ottos Bemühen, den neuen Ansatz verstehbar zu machen - was gar nicht trivial ist, denn natürlich geht es bei den Computermodellen, die sie verwendet, um Statistik und jede Menge Algorithmen. Nichts davon belastet die Lektüre, Otto vertieft die Probleme der Programmierung und Datenerhebungen nicht und konzentriert sich stattdessen mit vielen Beispielen darauf, nachvollziehbar zu machen, wie ihre Beweisführungen funktionieren. Das geht so: "Wir vergleichen das Wetter in einer Welt ohne Klimawandel mit dem Wetter in der heutigen Welt. Als würde man eine Schablone, die den Raum möglichen Wetters in der einen Welt abbildet, auf den Raum möglichen Wetters in der anderen Welt legen und überprüfen, ob sich die Umrisse verändert haben, also das Wetter extremer oder auch weniger extrem geworden ist."
Für die Zuordnung von Wetterextremen werden also zwei Welten im Computer miteinander verglichen: unsere reale mit einer simulierten Welt ohne die klimaschädlichen Treibhausgase. Selbstverständlich ist die Sache am Ende viel komplizierter, der Erfolg des Verfahrens steht und fällt mit den jeweils verfügbaren Daten. Weswegen es auch nicht immer zu eindeutigen Aussagen führen kann. Im Grunde ist die Attribution der Spürhund der Klimatologie, der in lückenhaften Wetterstatistiken und Bergen von Simulationen nach faulen Eiern schnüffelt. Otto sieht sich dabei als Teil einer "Klima-Spezialeinheit". Seit zwei Jahren bündeln die Fingerabdruckforscher ihre Kräfte im World Weather Attribution Project. Ihnen geht es darum, im Falle eines Hurrikans oder Hitzewelle wie zuletzt im Juni schnell zu reagieren.
Klimagutachten in Echtzeit - das birgt natürlich Gefahren, denn ein wichtiger wissenschaftlicher Standard, das Peer Review durch andere Experten, fällt damit aus. Auch dies ein Knackpunkt, den Otto allerdings sehr offen thematisiert. Ebenso wie die Grenzen, die ihr Verfahren noch hat, wenn es etwa um kleinräumige Tornados oder Hagelstürme geht, die von den grob aufgelösten Klimamodellen nicht simuliert werden können. Entscheidend freilich ist die Zukunft: In ihr dürfte sich vieles nicht nur methodisch verbessern lassen, es wird auch die Schuldfrage überhaupt in den Hintergrund treten. Stattdessen könnte sich, wenn Friederike Otto recht behält, der Brückenschlag zwischen Klima und Wetter sogar volkswirtschaftlich auszahlen - indem die Attributionsforschung nämlich hilft, sicherer zu sagen, wie und wo sich die extremen Folgen des Klimawandels niederschlagen werden. Allein deswegen, weil vom kleinen Agrarbetrieb bis zur großen Industrie viele profitieren dürften, ist dieses leicht lesbare Buch nicht nur Klimafachleuten unbedingt ans Herz zu legen.
JOACHIM MÜLLER-JUNG
Friederike Otto: "Wütendes Wetter". Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen, Hochwasser und Stürme.
Unter Mitarbeit von Benjamin von Brackel.
Ullstein Verlag, Berlin 2019. 240 S., br.
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