Besprechung vom 20.03.2020
Ein Roman macht Geschichte
Hilary Mantel schließt mit "Spiegel und Licht" ihre Trilogie über die Tudor-Zeit ab. Ihr Thomas Cromwell ist eine der großartigsten Schöpfungen der jüngeren Literatur.
Ihren Roman "Falken" hatte Hilary Mantel 2012 mit dieser Nachbemerkung beendet: "In diesem Buch geht es natürlich nicht um Anne Boleyn oder Henry VIII., sondern um die Laufbahn Thomas Cromwells, über den es immer noch keine umfassende, verlässliche Biografie gibt. Bis dahin bleibt der Master Sekretär geschmeidig, wohlgerundet und kaum zugänglich, wie eine erlesene Pflaume in einem Christmas Pie - aber ich hoffe, mit meinen Bemühungen fortfahren und ihn ans Licht holen zu können."
Zum Glück der Autorin ist auch in den acht Jahren seither keine Cromwell-Biographie erschienen, aber wie hätte die auch aussehen sollen, nachdem sich die ganze Welt bereits ihr Bild von diesem englischen Renaissance-Politiker machte - dank "Falken" und seinem Vorgängerroman "Wölfe" (2009)? Es gibt in der jüngeren Literatur keinen vergleichbaren Fall fiktionaler Rekonstruktion einer historischen Gestalt, die einen solchen Erfolg erlebt hätte. Oder über solche literarischen Qualitäten verfügt.
Jetzt wird dieser Zyklus, Mantels gefeierte "Tudor-Trilogie", mit einem Abschlussband vollendet, von dem weder sicher war, ob er überhaupt erscheinen würde (angesichts des prekären Gesundheitszustands seiner Autorin), noch, ob er den gefeierten Vorgängern würde standhalten können. Sowohl "Wölfe" (im Original "Wolf Hall") als auch "Falken" ("Bring Up the Bodies") gewann die wichtigste englische Literaturauszeichnung, den Booker Prize, und die lange Pause zwischen zweitem und drittem Band ließ Schwierigkeiten vermuten. Doch dann kam im vergangenen Jahr in Großbritannien die Ankündigung, dass "The Mirror and the Light" fertig sei. Bis zum Erscheinen des Buchs vor zwei Wochen lief die Vermarktungsmaschinerie warm, und seitdem steht das englischsprachige literarische Leben ganz in seinem Zeichen (F.A.Z. vom 9. März).
Bei uns dürfte es in den nächsten Wochen kaum anders sein, zumal nun unfreiwillig die nötige Lesezeit für die fast 1100 Seiten bereitsteht - beinahe so viel wie die ersten beiden Bände zusammen. Von heute an ist der dritte Teil erhältlich, und gestern war er bei Amazon als gebundenes Buch schon nicht mehr lieferbar. Hatte sich DuMont als deutscher Verlag mit den Vorgängerbänden noch jeweils ein Jahr Zeit für die Übersetzung gelassen, ist der neue diesmal also mit nur zwei Wochen Abstand gefolgt. "Spiegel und Licht" ist er überschrieben, und wie beim zweiten Band hat Werner Löcher-Lawrence hervorragende Arbeit geleistet (der erste war noch von Christiane Trabant übersetzt worden), und das will angesichts der knappen Zeitspanne und des Buchumfangs einiges heißen. Die Bildhaftigkeit der mantelschen Prosa ist wieder meisterhaft übertragen worden.
Worin besteht deren Reiz? Erst einmal in der Gegenwärtigkeit, die sie heraufbeschwört. Mantel erzählt im Präsens und radikal aus der Perspektive Thomas Cromwells. Keine Szene im Buch, die ohne ihn auskäme - ein ganz anderes Erzählprinzip als im ersten großen historischen Roman dieser Schriftstellerin, dem multiperspektivischen "Brüder" von 1992. Und doch ist die Tudor-Trilogie keine Ich-, sondern eine Er-Erzählung, aber eine, in der dieses "Er" mindestens so persönlich auftritt, wie es ein "Ich" täte.
Dadurch sind die wiederkehrenden Passagen, in denen Cromwells Gedanken oder nahtlos in den Fluss der aktuellen Ereignisse eingebettete Erinnerungen an seine Vergangenheit geschildert werden und er dabei über sich selbst "ich" sagt, noch eindrucksvoller, weil der kühle Analytiker seiner Zeit, als den ihn Mantel vorführt, aus der Rolle zu fallen scheint. Das Porträt des Thomas Cromwell ist ein kaleidoskopisches insofern, als sich durch ein ineinandergreifendes Beobachten seiner selbst und seiner Welt ständig das Handlungsmuster verändert: Cromwell agiert weniger, als dass er reagiert, seine persönlichen Überzeugungen (in religiöser, ökonomischer, psychologischer, politischer, auch amouröser Sicht) stellt er ständig hintan. Neben ihm lebten im Europa der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts Überzeugungstäter wie Luther, Zwingli, Calvin - alle Reformatoren genannt, obwohl sie Revolutionäre waren. Cromwell steht ihnen darin nicht nach; er sorgte politisch wie juristisch dafür, dass Heinrichs erste beide Ehen für ungültig erklärt werden konnten, was die Befreiung Englands vom Einfluss des Papstes und schließlich die Etablierung der Church of England zur Folge hatte.
Cromwells eigene religiöse Überzeugungen waren aber vielmehr kontinental-protestantischer Natur, worauf in Heinrichs Staat der Tod stand. Also verleugnete er sie, um über die Beeinflussung des Königs einen evolutionären Weg zum neuen Verständnis des christlichen Glaubens zu ebnen. Cromwell war ein Realpolitiker, und das heutige Großbritannien beruht auf seinem Wirken. Das macht diesen Mann der Renaissance zu einer so ungemein modernen Figur.
Und Hilary Mantel zieht alle Register modernen Erzählens. Ihr Roman weist keinen historisierenden Ton auf, aber sie streut Archaismen ein, stellt über Dialoge intellektuelle Positionen jener Epoche vor, und sie macht die Zeit der Handlung anschaulich über eine Liebe zum Detail, die beispiellos dasteht. Natürlich sind ihr dabei die Relikte aus der Herrschaftszeit Heinrichs VIII. willkommene Inspiration: all die Holbein-Gemälde, Gebäude, Schmuckstücke, Tapisserien. In dem berührenden Text "Tudor Places", der nur in einer Sonderausgabe des neuen Romans für die britische Buchhandelskette Waterstones enthalten ist, gibt sie Auskunft über ihre Suche danach. So etwa am Grab Heinrichs in Windsor Castle: "Als ich auf seinen Überresten stehe, empfinde ich Schwindel und Übelkeit, und in meinem linken Arm tritt ein starkes Gefühl auf, das mir signalisiert: tote Leute um mich herum. Aber ich bin gerne bereit einzuräumen, dass es sich nur um meine Einbildung handelt."
Es ist aber eben Hilary Mantels Einbildungskraft, die etwas sichtbar zu machen vermag, von dem es keine Zeugnisse gibt, und nicht selten verfällt die Erzählstimme dann in ein "wir", das Thomas Cromwell aufhebt in eine kollektive Stimme des englischen Volks. So anlässlich der ersten Wiederbegegnung von Heinrich mit seiner ungeliebter Tochter Mary aus erster Ehe, nachdem er gerade seine dritte Frau, Jane Seymour, geheiratet hat: "Wenn unsere Enkel oder die in einem anderen Land, fern von diesen im Glühwürmchenlicht verbleichenden Feldern, einst die Chroniken dieser Regentschaft zusammenstellen, werden sie sich das Treffen zwischen dem König und seiner Tochter vorzustellen versuchen - die Reden, die sie füreinander gehalten haben, die gegenseitigen Aufmerksamkeiten, die Versprechen und Segenswünsche. Was sie nicht gesehen haben, nicht aufschreiben können, war Lady Marys wackliger Knicks und wie das Gesicht des Königs rot anlief, als er durch den Raum lief und sie in den Arm nahm, ihr Schniefen und Wimmern, als sie den weißgoldenen Stoff seiner Jacke ergreift, sein Keuchen, sein Schluchzen, seine bebenden Koseworte und die heißen Tränen, die ihm aus den Augen quellen." Wo die Chroniken schweigen müssen, fängt Hilary Mantel erst richtig an.
Nur ein Bespiel: Der Titel ihres neuen Romans verdankt sich einer - erfundenen - Bemerkung Thomas Cromwells gegenüber Heinrich VIII.: "Ihre Majestät ist der einzige Fürst. Der Spiegel und das Licht anderer Könige." Gesprochen wird sie im Roman unter vier Augen, aber nun wird sie in Millionen Gedächtnissen verankert sein. In der Allegorie schwingen Begriffe wie "Fürstenspiegel" und "Aufklärung" mit. Sie ist perfekt gewählt. Aber sie fließt Hilary Mantels Cromwell ganz selbstverständlich aus dem Mund.
Und genauso selbstverständlich erzählt Mantel uns durchs Dickicht der englischen Innenpolitik jener Zeit, stellt die wechselnden Bündnisse und die beständigen Feindschaften vor, deckt Intrigen und Dummheiten einer runden Hundertschaft gesellschaftlicher Akteure auf, und in keinem Moment ist das undurchsichtig oder gar langweilig. Im Gegenteil: Als Leser fiebert man mit Thomas Cromwell, der im zweiten Band doch so unsympathisch geworden war in seinem kalten Machtkalkül, bekommt ihn nun noch intensiver als in den ersten beiden Teilen der Trilogie als Mann mit Vergangenheit vorgeführt, als Getriebenen alter Phantome, der mit Toten ebenso im Zwiegespräch ist wie mit Lebenden, und man wünscht wider besseres (historisches) Wissen, er möge überleben. Aber wie jeder der bisherigen Bände bietet auch dieser am Schluss eine Enthauptung: Thomas More wurde am Ende von "Wölfe" hingerichtet, Anne Boleyn am Ende von "Falken", Thomas Cromwell nun am Ende des Ganzen.
Kann unser historisches Wissen wirklich besser genannt werden als das, was Literatur zu vermitteln versteht? Hilary Mantel macht mit ihren drei Romanen ein Interpretationsangebot auf der Grundlage allgemein recherchierbarer Fakten und der nur ihr zugänglichen eigenen Phantasie. Das Tudor-England auf der Grundlage Ersterer ist weniger lebendig als das Tudor-England von Mantel. Das ist keine Frage der Wahrheit, es ist eine der Wahrhaftigkeit: Wo wir Menschen besser verstehen lernen, ist mehr fürs historische Verständnis getan als mit bloßer Datenkenntnis und Namenslisten. Geschichtsschreibung erfolgt über Geschichtenschreiben, und Hilary Mantel ist eine Virtuosin des Letzteren. Ziemlich genau in der Mitte ihres neuen Romans seht ein Fazit dessen, was sie uns erzählt hat mit ihrer Tudor-Trilogie: "Irgendwo, vielleicht auch nirgends, gibt es eine Gesellschaft, die von Philosophen regiert wird. Sie haben saubere Hände und reine Herzen. Aber selbst in der Hauptstadt des Lichts gibt es Müllgruben und Misthaufen voller Schmeißfliegen. Selbst in der Republik der Tugend brauchst du einen Mann, der die Scheiße wegschaufelt, und irgendwo steht geschrieben, dass er Cromwell heißt."
Nein, nicht irgendwo. Im bislang größten Romanzyklus des einundzwanzigsten Jahrhunderts. In dem die Cromwells weiterschaufeln.
ANDREAS PLATTHAUS
Hilary Mantel: "Spiegel und Licht". Roman.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Dumont Verlag, Köln 2020. 1098 S., geb., 32,- [Euro].
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