Besprechung vom 20.08.2020
Heuer alles schiacher
Über Lisa Eckharts Roman "Omama" wurde bereits viel gestritten, nun kann man ihn auch lesen
Am Beginn des zweiten Teils von Lisa Eckharts Debütroman "Omama" steht eine Art essayistische Abhandlung über die historische Entwicklung von Dorfgemeinschaften. Die sakralen Säulen dörflicher Gemeinschaften, heißt es da, seien "Schönling, Matratze, Depp und Trinker. Die vierfache Einfältigkeit. Heute stehen an ihrer Stelle lust-, genuss-, humorbefreite Sitten und Moralapostel und eine primitive Heerschar ungustiöser Epigonen." Nun, da sich die Zeiten geändert hätten, gelte der Depp als Behinderter, und niemand lache mehr über seinen "bunten Irrwitz". Und der Dorftrinker? Komme als "Süchtler" in die Entzugsklinik. "So hieß man früher nur solche, welche gerne Rauschgift nahmen. Und Rauschgift hieß man etwas nur, wenn ein Schwarzer es verkaufte." Heute sei alles Rauschgift und jeder Süchtler, so die bedauernde Schlussfolgerung der Erzählerin, die mit den Worten schließt: "Früher war alles besser, weil man wusste, wie schlecht alles war. Heute ist alles schlechter, weil man glaubt, dass alles gut sei."
Daran ließe sich ohne Umschweife die Dreifaltigkeit der Kabarettistin Lisa Eckhart konstatieren: Missmut, Selbstüberhöhung, Provokation. Aber man befindet sich ja nicht in einer öffentlich-rechtlichen Kabarettsendung, sondern in einem Roman, dem ersten der für ihre satirischen Grenzgänge im Gebiet des Sagbaren bekannten Eckhart. Die eine Kunstfigur muss nicht zwangsläufig die andere sein. Kurz vor seinem Erscheinen stand "Omama" im Zentrum einer Diskussion, die seinen Inhalt gar nicht betraf, sondern einen Auftritt der Autorin damit bei einem Hamburger Literaturwettbewerb. Über all dies wurde berichtet.
Die Diskussion war ziemlich überhitzt wie bei Netzdebatten üblich. Aber sie hatte auch ihr Gutes. Den Veranstaltern zeigte sie, dass sie mehr Verantwortung übernehmen müssen: im Umgang mit Autoren, die nicht mit Kollegen auftreten wollen, deren Arbeit sie ablehnen, und im Umgang mit der Angst vor der Eskalation. Sie bewies, dass eine Abgrenzung zwischen sogenannter cancel culture und berechtigter bis hysterischer Kritik im Netz in der Debatte dringend nötig ist. Und sie hat Eckharts Roman einem gewissen Erwartungsdruck ausgesetzt - was einer Autorin, die moralische Korsetts unserer Gesellschaft beklagt, nicht ungelegen kommen dürfte.
"Omama" allerdings ist gar kein Stoff für Skandale. Es ist eine ambitionierte Geschichte über Großmutter Helga, die in der österreichischen Provinz aufwächst und den Lesern als wirkliche Oma der Erzählerautorinnenkunstfigur Eckhart präsentiert wird: "Dem gemeinen Leser mag das freilich imponieren, da er, für Kunst so taub wie blind, stets Wahres dem Erdachten vorzieht."
Die chronisch lügende Helga und ihre schöne Schwester Inge erwarten wenige Wochen nach Kriegsende voll gespannter Angst die Ankunft der Russen. Ihre Eltern haben wenig mehr im Sinn, als die Mädchen zu verprügeln und zu arbeitswilligen Frauen zurechtzubiegen. Das und vieles mehr in ihrem Leben ist in den Worten der selten teilnahmsvollen Erzählerin grausig, auch wenn "der Russe" die Mädchen am Ende verschont, bei der Familie einzieht, Rührei zubereitet, mit dem Vater trinkt und nachts in die Spüle pinkelt.
Später werden die Töchter als ausgeliehene Arbeitssklavinnen weggeschickt. Weil das Leben hart ist, wird Vertrauen spärlich vergeben. Eigentlich kämpft jede und jeder für sich. Dieser Kampf liest sich mal abgeklärt, mal überdreht, immer detailreich im Dienste sprachlicher Pointen. Ständig wendet sich das Blatt, meistens ins Groteske, wobei oft einer oder etwas mit Fäkalien beschmiert wird. Es liegt an Eckharts Beobachtungsgabe für sonst aus Anstand übersehene Unerfreulichkeiten, dass nicht alles am Dorfleben konstruiert wirkt. Dafür steigert sich die Erzählung in eine aufgeputschte Suche nach dem Unbehagen. Als die Russen kamen, erzählt die Oma der Enkelin, hätten sich ihnen Heerscharen junger Frauen an den Hals geworfen, die "dem Russen gar nicht geheuer waren". Und eine Großcousine erzählt von Vergewaltigungen, die ihr erspart blieben - um dann anzufügen: "Doch ich war früher auch sehr hübsch."
Bei ihrem grausamen Ringen um die Gunst von Männern und Enkeln sind sich die Frauen die ärgsten Feinde. Großmütter wünschen sich gegenseitig den Tod, Helga wünscht ihrer Schwester einen kahlen Kopf. Andere sind angeblich weniger damit beschäftigt, die Tränen ihrer Kinder zu trocknen, als ihre Männer zum Weinen zu bringen. Die Wirtin, bei der Helga anheuert, regiert als Furie in ihrem traditionellen Reich. Die Männer hingegen sind ausnahmslos schwach. Knödel essend sitzen sie, bar jeder Autorität, bei Tisch oder - je nach Grad der Männlichkeit - auf Motorrädern. Der schönen Inge ist ein Professor verfallen, der rein gar nichts versteht: Würde sie auf seinen Wunsch ihre Matura nachmachen, verlöre er seine Daseinsberechtigung. "Sie wird nie beeindruckend schlau sein. Darum bleibt sie berückend schlicht."
Dann ist da eine Reihe schwarzhumorig komischer Anekdoten, wenn etwa die von den nächtlichen Gelagen bei der Familie verärgerten Dorfbewohner beschließen, den alten Vater bei den Russen als den "Führer" persönlich zu verpfeifen - worauf er am Ende besser behandelt wird als je zuvor. Oder wenn der Anwalt, der Helga aus der Vormundschaft ihrer Eltern befreien soll, versichert, im Gerichtssaal gehe es nicht darum, ob man gewinne oder verliere: "Ein Prozess ist wie ein Walzer. Mal führt der eine, mal der andre." In diesem ihren Spezialgebiet bewegt sich die Autorin so ausgiebig, bis irgendwann nur noch Deppen und Trinker unterwegs sind und der Überdruss einsetzt.
Fein und gerissen in den Kontext der Zeit gesetzt, hat Eckharts von "Hoserln", "Lottern", "Watschen" und "Zumpferln" durchsetzte, über mehrere Jahrzehnte angelegte Dorfgeschichte etwas Nostalgisch-Sehnendes nach einer Zeit, in der Frauen noch kräftig angefasst werden durften und Zigeuner (ganz ohne Neid) noch das beste Gulasch machten. Aber selbst wer in dieser Zeit eine vermeintlich tröstliche Klarheit zu erkennen glaubt, muss von der Geschwätzigkeit und beharrlich nach Effekten heischenden Erzählung spätestens im letzten Teil, der die Enkelin mit der vorbildlich backenden, Ordnung haltenden, angeschmachteten Großmutter vereint, genug haben.
Der Wiener Tageszeitung "Standard" hat Lisa Eckhart gesagt, ihr Buch sei ein "semantischer Terrorangriff", bei dessen Lektüre sich ihre Leser um den Verstand interpretieren sollen. Aber wo liegt der Mehrwert eines literarischen Werks, das sich allein in Provokation ergeht? Was bleibt abzüglich der Groteske von der Zeit und ihren Zeugen zu erfahren? Und regt sich Unbehagen womöglich nicht nur angesichts der Provokation, sondern auch gegenüber einer Erzählerin, die alles weiß und verstanden hat, die Figuren und Lesern gleichermaßen zusetzt und die Reproduktion von Vorurteilen als Avantgarde verkauft?
Im Epilog schreibt die Erzählerinnenkunstfigur, sie vermisse die Zeiten, als man noch um Fakten stritt. Als es noch um Wahr und Falsch, nicht nur um Gut und Böse ging, als der Klügere noch nicht nachgeben musste, weil es noch gar keinen Klügeren gab. Lange wurde nicht mehr so umfassend und radikal über Fakten gestritten wie heute. Lisa Eckharts Debüt, das sich in eine andere Zeit zurücksehnt, gibt seinen Lesern nichts zum Streiten. Die Kunstfigur ist altbekannt. Was bei ihr zählt, ist die gefühlte Temperatur.
ELENA WITZECK
Lisa Eckhart: "Omama". Roman.
Zsolnay Verlag, Wien 2020. 384 S., geb.
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