Besprechung vom 07.03.2020
Suche Höhle für poetisches Dasein
Ein Haus besetzen und vor Glück vom Dach springen: Lutz Seilers Roman "Stern 111" erzählt von deutscher Wende-Euphorie um 1989/90 und danach - so intensiv, dass man am liebsten dabei gewesen wäre.
Von Jan Wiele
Der magische Trick an Lutz Seilers Literatur? Sie kann das vermeintlich Banale in etwas ganz Besonderes, sogar Heiliges verwandeln. Eine scheinbar uninteressante Böschung am Bahndamm: "gelobtes Land", wenn ein Gedicht Seilers sie dazu erklärt. Eine Suppe aus Essensresten: eine "ewige Suppe", wenn der charismatische Anführer Kruso sie im gleichnamigen Roman kocht. Und ein Mittelklassewagen aus östlicher Ferne und Vergangenheit, der in unserem maßlosen SUV-Zeitalter wie ein Witz wirken muss: eine Wunderkiste, in die man nach Lektüre von Seilers neuem Roman sofort einsteigen möchte. "Es war ein schönes fließendes Fahren. Der Shiguli rollte praktisch von allein, und Carl konnte träumen. Er mochte das Geräusch der Radialreifen auf Pflasterstraßen, und also suchte er sich Pflasterstraßen - die nachtgraue Schönhauser Allee zum Beispiel, bergauf und bergab, das Summen und Brummen unter den Schädeldecken der Pflastersteine, so lange bis ihm warm war. Dazu das stumpfe Meeresrauschen des Gebläses, der Wind und die Wärme auf den Wangen. Der Shiguli lief wie auf Schienen, die er sich weise vorausschauend selbst auslegte."
Wir sind in Berlin, Dezember 1989. Wer nicht in der DDR aufgewachsen ist, wird das beschriebene Automodell kaum kennen. Seinen poetischen Auftritt hat Seiler indes lange vorbereitet. Bereits in einem 2004 erschienen Essay mit dem Titel "Schwarze Abfahrt Gera-Ost" beschreibt der gebürtige Thüringer die Faszination fernwehgetriebener Ausflüge mit dem Vater "über die Felder an die Autobahn". Dort beim Beobachten dann "der lange utopische Wunsch nach einem eigenen Wagen, der Anfang der siebziger Jahre mit einem WAS 2101, der damals noch Shiguli hieß und später LADA, in Erfüllung ging. Ein solides Auto von der Wolga, kantig und schneeweiß."
Aus der Utopie ist Biographie geworden - und jetzt ein Roman. Darin ist die Sehnsuchts-Erinnerung ausgebaut zum Sonntagspicknick. Nun mit beiden Eltern, aber demselben Wunsch nach einem Shiguli, "die Radkappen verchromt und die Karosse schneeweiß wie die Birken an der Autobahn". Und noch etwas kommt dazu: "Hauptereignis waren die Wagen aus dem Westen", die der Vater am Motorengeräusch unterscheiden kann. Sein Sohn, der damals noch in einer Karre sitzt, hat auf den Knien ein Kofferradio namens "Stern 111", das dem Roman seinen Titel gibt. Noch eine Wunderkiste, die somit auch das Buch zu einer macht.
Der Sohn, gereift zum jungen Mann, heißt Carl und hat manches mit seinem Erfinder gemein. Mit dem Shiguli des Vaters fährt er im Wende-Spätherbst von Gera nach Berlin, um ein neues Leben anzufangen. Er wird in dem Wagen schlafen, ihn als Schwarztaxi benutzen und schließlich damit seine erste Westreise nach Paris antreten. Das Auto wird zum Symbol für Individualität, Selbstbestimmung und Freiheitsstreben. In der Wahrnehmung der Menschen, die Carl trifft, verbindet es sich mit seinem Fahrer, den sie bald "Shigulimann" nennen.
Das ist eines jener Worte mit Wallungswert (Gottfried Benn), wie sie Seilers Texte oft strukturieren. Der Shigulimann ist ein Eigenbrötler, aber in Berlin steht ihm die Erfahrung des Kollektivs bevor - und die Wallungsworte dazu lauten "kluges Rudel". Dieses lose Kollektiv freidenkerischer und künstlerisch veranlagter junger Menschen träumt davon, Hunderte Häuser zu besetzen - pardon, "bewohnbar zu machen", denn um diesen ideologischen Konflikt der Wendezeit dreht sich Seilers Roman maßgeblich. Das östliche Berlin um Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain wird hier zu einer Art Abenteuerspielplatz, und Carl, der als gelernter Maurer gut zu gebrauchen ist, mischt ordentlich mit. Ähnlich wie in "Kruso" die Aussteigergemeinschaft auf Hiddensee hat das kluge Rudel einen Anführer. Dieser heißt "Hoffi, der Hirte". Ein schrathafter Mann, der eine Ziege besitzt sowie die Weisheit, etwa: "Sabotage an den Brutstätten des Kapitals bei gleichzeitiger Umverteilung". Das heißt auf Deutsch: Man raubt Baumaterial und Werkzeug, um es zu verkaufen oder für eigene Projekte zu verwenden. Eines davon ist die "Assel": eine Underground-Kneipe für alle, in der sich bald Hausbesetzer aus Ost und West, Prostituierte und russische Soldaten tummeln. Carl wird dort Kellner - so wie auch Lutz Seiler im richtigen Leben es war.
In dieser Umgebung, einem neuen Sozialismus nach dem Scheitern des DDR-Sozialismus, blüht Carl auf, er lernt Frauen und Männer kennen, alle auf die je eigene Weise verrückt, und er wird, was sein größter Wunsch war, zum Dichter, einem veröffentlichten. Es ist eine Zeit der ausgelebten Kreativität: Einer malt Kunst auf das Papier der Zementsäcke, einer formt sie aus Müll und ein anderer, Carl, aus Worten. Dann trifft dieser seine Jugendliebe wieder, Effi - und für einen Moment verwirklicht sich das Ideal einer Zweierbeziehung, in der beide Künstler sind, beide frei und doch zusammen.
Lutz Seiler gelingt es, die Ost-Berliner Umbruchszeit so faszinierend zu beschreiben, dass man gern dabei gewesen wäre - im vollen Bewusstsein, damit einer gewissen Ostalgie aufzusitzen, die der Roman einerseits zelebriert und andererseits anhand der von Westen kommenden Wende-Touristen auch karikiert. Er setzt der Berliner Szene von damals ein literarisches Denkmal, wie es noch keines gegeben hat - mit vielen Anspielungen auf historische Orte und Personen und unvergesslichen Episoden. An einem Nachmittag besetzt Carl drei Wohnungen in einem Rutsch, um Effi später drei Schlüssel zur Auswahl zu geben; die Ziege beginnt zu fliegen, und zwei Menschen, die es leider nicht können, springen verzweifelt vom Dach. Auch kritische Ironie kennt die Erzählung. So hat Kruso einen Gastauftritt als irrer Militarist, und als es darum geht, auch Stücke der Berliner Mauer zu Geld zu machen - "diskret, schön, geschliffen, der gute Beton gibt das her" -, bestätigt Maurer Carl: "B 500, beste Qualität."
Über diesen Witz wird nicht jeder lachen können. Wahrscheinlich auch nicht Carls Eltern, denen die andere Hälfte dieses Romans gehört. Sie haben den Bau der Mauer miterlebt und das, was folgte. Bereits zwei Tage nach ihrer Öffnung wollen sie auf und davon, und Carl muss sie über die ehemalige Grenze bringen, während er in Gera "die Stellung halten" soll, was ihm absurd erscheint: ",Unsere Eltern sollen es einmal besser haben.' Etwas stimmte nicht mit diesem Satz."
Die Ehepartner, Inge und Walter, werden zunächst ihr Glück allein suchen, um größere Aussicht darauf zu haben. Aber besser als früher geht es ihnen so schnell nicht. Sie sind Flüchtlinge und werden auch so behandelt - ob im zentralen Notaufnahmelager in Gießen oder auf Arbeitssuche zwischen Hamburg und Gelnhausen. Inge schöpft mehrfach Vertrauen, das enttäuscht wird - von Menschen mit Ressentiments oder auch durch die Härten der Marktwirtschaft. Und was Walter erlebt, als ihm nach kurzer Zeit als fahrender Programmier-Experte wieder gekündigt wird, ist ebenfalls unvergesslich. Im Wagen seines Chefs hatte er, aus altem Habitus, auf Dienstreisen Dinge gelagert, die man "vielleicht noch mal irgendwann gebrauchen konnte", darunter ein "gutes Brett", Schrauben, Draht. Als sein Chef die Sachen findet, schießen wilde Verdächtigungen ins Kraut: Der Computerfachmann aus Gera könnte nicht nur ein Spion, sondern gar ein Terrorist sein, der eine "schmutzige Bombe" zu bauen vorhatte.
Dieses Kapitel der deutschen Zeitgeschichte ist bislang noch viel zu wenig literarisiert worden, auch darin liegt ein großes Verdienst Seilers. Der "lange Weg nach Westen" vieler Ostdeutscher nach 1989 führt hier Walter, einen früheren Mitspieler des "Akkordeon- und Mandolinen-Orchesters der SDAG Wismut", zum Stern von Bill Haley nach Hollywood, wo er mit seinem Instrument Rock 'n' Roll spielen und in thüringischem Englisch dazu singen wird. Und dieser Weg zaubert seiner Frau Inge, die als Kind aus Böhmen flüchten musste und in Gera unglücklich war, schließlich ein kalifornisches Lächeln ins Gesicht, während ihr Sohn Nick Caves "Weeping Song" hört. Ein fast surreales Ende, das aber noch nicht den surrealen Gipfel dieses Romans darstellt. Es ist auch einer der Trauerarbeit.
Nicht zuletzt literaturgeschichtlich funkelt "Stern 111": Während die Panoramadarstellung der Berliner Szene mit all ihren schlaglichtartig vorgestellten Figuren und auch die Lebensschau von Carls Eltern an Alfred Döblin erinnert, wandelt die Hauptfigur in der Spur eines anderen Großstadtromans: nämlich Rilkes "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", dem das Motto entnommen ist: "Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen." Auch Carl ist zur Erzählzeit etwa in diesem Alter, und die grundstürzende Erschütterung des Malte durch Stadt, Menschen, Tod und Dichtung wird er, in verwandelter Form, nachempfinden. Am Anfang sucht Carl eine "Höhle für ein poetisches Dasein", am Ende weiß er, dass "der Kampf um ein poetisches Dasein nicht poetisch war". Nach berauschender Gewissheit von Gemeinschaft, die dann wieder verschwand, hat er "Vertrauen in die Verlassenheit" geschöpft, die Bedingung des Schreibens und für manche Menschen auch des Lebens ist.
Lutz Seiler ist nun schon zum zweiten Mal etwas sehr Außergewöhnliches gelungen: nämlich in einem im besten Sinne "massentauglichen" Roman davon zu erzählen, wie man das poetische Dasein wirklich führt, eine so euphorische wie grausame Angelegenheit. Und nebenbei hat er, auch wenn er wie die meisten Schriftsteller aus guten Gründen das Etikett nicht mag, einen maßgeblichen, wenn nicht den definitiven Wenderoman geschrieben.
Lutz Seiler: "Stern 111". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 528 S., geb
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