Besprechung vom 08.09.2021
Würde ich mich nicht gut als Historiker machen?
Ein Lesemarathon: Michael Köhlmeier erzählt in "Matou" die sieben Leben von Kater Murrs Ahnherrn.
Den schlauen Kater Matou, den Michael Köhlmeier in seinem neuesten Buch erzählen lässt, nennt E.T.A. Hoffmann einfach Murr. Von ihm will Matou in seinem zweiten von sieben Leben das Lesen und Schreiben erlernen, sonst nichts, denn den Rest meint er sich schon selbst aneignen zu können. Da "kathederte" E.T.A. Hoffmann dem "dummen Tier" vor, dass in Lesen und Schreiben einfach alles enthalten sei, "was den Menschen ausmacht". Und das Tier, wird man nach diesem 950 Seiten langen Lesemarathon hinzufügen. Bei Köhlmeier ist "alles" nämlich ziemlich viel, er versteht durchaus zu fabulieren, nicht aber Maß zu halten, auch wenn er es schafft, das Buch in knapp 41 Stunden selbst einzulesen (Der Hörverlag). Der Grund dafür liegt in der ungeheuren Belesenheit des Autors und seiner Vernarrtheit in historische und mythologische Stoffe, die er auch in Funk und Fernsehen lebendig nachzuerzählen versteht. Erneut nennt er das Ganze jetzt "Roman". Wie schon bei der fiktionalisierten Doppelbiographie zu Chaplin und Churchill in "Zwei Herren am Strand" (2014) geht es in "Matou" vor allem um geschichtliche und literarische Stoffe, die neu erzählt und mit viel Phantasie weiterentwickelt werden.
Damit sind wir wieder bei E.T.A. Hoffmann und seinem berühmten Kater Murr, für den die eigene Hauskatze als Vorbild gedient haben soll. Köhlmeier ersetzt dieses reale Tier durch ein fiktives, das zu seiner Selberlebensgeschichte ähnlich begabt und beredt ist wie Murr. Vor allem verfügt dieser französisch bezeichnete Kater aber bereits über ein zweihundertseitiges Vorleben im revolutionären Paris, wo er unter der Guillotine nicht nur das Blut seines Herrn Camille Desmoulins aufleckt, sondern sich auch erstmals in Menschensprache vernehmen lässt. Dieses erste Leben Matous zeigt sehr gut das Verfahren dieses überwiegend historisch orientierten Romans: Die Geschichte der Revolution wird aus Sicht des schnurrenden Beobachters anhand einer ihrer ersten Führer rekonstruiert, zugleich als schöne Variante zu Georg Büchners "Dantons Tod". Man taucht ein in die Tyrannei der Schreckensmänner um Robespierre, erlebt die Verhaftung und Hinrichtung auf dem Schafott hautnah mit und wird zugleich ständig über die herangezogenen Quellen belehrt, die Matou dann in seinem siebten Wiener Leben mit Blick über die Schulter eines Geschichtsstudenten selbst studieren wird. Kistenweise lässt er sich Bücher aus der Nationalbibliothek ins Büro bringen. Diesem geistreich und witzig ausgemalten Geschichtskurs folgt man gerne, fragt sich angesichts der perfekten Abgeschlossenheit aber, ob bloße Sprichwörtlichkeit sechs weitere Leben Matous erfordern. Schon das erste trägt für sich allein.
Das verbindende Element zwischen Matous sieben Leben und Köhlmeier besteht im Erzähltalent. Schon kurz nach der ersten Geburt gelingt es dem Kater, seine Geschwister aus dem gleichen Wurf "in eine Geschichte einwickeln zu können", um sie loszuwerden und allein zu überleben. Außerdem ist er extrem bildungshungrig und gewitzt, er spricht von seiner "philosophischen Ausrichtung" als "Matouismus". Als er im zweiten Leben in Berlin zunächst auf einen Floh trifft, den Demokraten Peregrinus, macht er sich ganz im Stil der Madame de Staël oder Heinrich Heines über das romantische Land der Dichter und Denker lustig. Statt der französischen Vernunft ist Peregrinus nämlich deutschen Träumereien verfallen, "die wie alle Träumereien keinen rechten Anfang, keinen Höhepunkt und kein plausibles Ende haben". Köhlmeier kann man das nicht vorwerfen, seine Geschichte ist gut gegliedert, verständlich und unterhaltsam, nur zu ungehemmt ausschweifend. Überbordendes Fabulieren eben.
Das Kapitel über E.T.A. Hoffmanns Berlin ist mit vielen Blicken auf Olimpia und Undine, Meister Floh und später auch die Serapionsbrüder literarhistorisch besonders ergiebig. Jedes der sieben Leben wird in den anderen wieder aufgegriffen, denn Matous Erinnerungsvermögen verknüpft sie alle über den jeweiligen Tod hinaus miteinander. Das theologisch geprägte dritte spielt auf der Katzeninsel Hydra, der Kater endet im Rachen einer Leopardin und erlangt per "Organogenese" mal rasch eine Wiedergeburt in sein viertes. Das führt in den Kolonialkrieg im Kongo, der sich von 1885 bis 1908 im persönlichen Besitz des belgischen Königs Leopold II. befand. Matou fragt da ganz zu Recht: "Würde ich mich nicht gut als Historiker machen, als Wissenschaftler", so zwischen Herodot und August Winkler? Oder als Literaturkenner, der im fünften Leben in Kafkas Prag eintaucht, um sich mit dem Affen Rotpeter auseinanderzusetzen. Und natürlich als Sprach- und Religionsphilosoph, der im sechsten Leben - bei Andy Warhol in New York - angeregt mit Noam Chomsky oder Takamaro Shigaraki diskutiert und seine langen Leselisten immer gleich noch in aller Bescheidenheit beifügt.
Wir verstehen: Hier ist ein Universalgelehrter am Werk, der fast die halbe Seite 522 füllen muss, um all seine Expertisen aufzuzählen. Wenn Matou gleich darauf seine Memoiren als völlig "inkommensurables Werk, das sich von allen anderen unterscheidet", bezeichnet, dann zitiert er implizit einen, dessen Name im ganzen Buch genau zehnmal fällt, nämlich Goethe. Auf Eckermanns Frage nach der Zentralidee des "Faust" antwortete dieser, sein Werk sei "als ein Ganzes immer inkommensurabel" - wie überhaupt Literatur, die uns die größten Rätsel aufgebe, am besten sei. Köhlmeier scheint mit "Matou" einen ähnlich hohen Anspruch erheben zu wollen. Statt aber einen Weltkosmos wie in Goethes "Faust" zu schaffen, legt er nur sieben Lebenserzählungen eines Katers vor, die sich dann doch nicht zu einem inkommensurablen Ganzen fügen. ALEXANDER KOSENINA
Michael Köhlmeier: "Matou". Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2021. 957 S., geb.
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