Besprechung vom 10.06.2021
Wildnis und Zuhause
Zum 50. Mal: "Schöne Aussichten"
FRANKFURT Kamtschatka? Terra incognita. Niemand auf dem Podium im Frankfurter Literaturhaus wusste mit der nordostsibirischen Halbinsel etwas anzufangen. Dabei ist unter dem Titel "An das Wilde glauben" (Matthes & Seitz) erst vor Kurzem ein Buch der Ethnografin Nastassja Martin über Kamtschatka erschienen und in der F.A.Z. gleich zweimal besprochen worden. Jetzt aber war es ein Roman, den die professionelle Tennisdame und Autorin Andrea Petkovic als Gast der Kritikerrunde "Schöne Aussichten" vorstellte, des "Flaggschiffs" des Literaturhauses, wie Programmchef Hauke Hückstädt zur 50. Ausgabe glücklich hervorhob. Nicht ganz zufällig also hat Petkovics New Yorker Nachbarin Julia Phillips ihren Kriminalroman "Das Verschwinden der Erde" (dtv) genannt. Kamtschatka ist schon verschwunden, jedenfalls aus dem Bewusstsein des Westens.
Zwei Mädchen, elf und acht Jahre alt, sind nicht mehr aufzufinden. Der Roman löst den Fall. "Ein Kaleidoskop der Persönlichkeiten an einem unbekannten Flecken der Welt", so Petkovic. Wie ein Trauerflor ziehe sich das Verschwinden der Landschaft durch den Text. Mara Delius, Literaturkritikerin der Tageszeitung Die Welt und zum letzten Mal mit dabei, lobte die "verdichtete Atmosphäre" und tadelte die "erklärenden Sätze". Hubert Spiegel, Redakteur im Feuilleton der F.A.Z., hat das Buch gern gelesen, vermisste aber mehr Auskünfte über die Indigenen und die russischen Kolonisten. Da witterte Moderator Alf Mentzer vom Hessischen Rundfunk "kulturelle Aneignung" im Roman. "Nein", rief Delius. Als gebürtige Serbin wies Petkovic noch eigens auf "die Verhältnisse zwischen Mann und Frau in einer postsowjetischen Gesellschaft" hin.
Unter dem Titel "Levys Testament" (Suhrkamp) habe Ulrike Edschmid "drei Romane in einem auf 140 Seiten" verfasst, so Spiegel. Delius stellte das Buch vor mit der Frage, die den Text durchziehe: "Wie kann ein Jude ein Zuhause finden?" Die Mutter des Protagonisten mit seiner geheimen Familien- und öffentlichen Aufstiegsgeschichte in der Opernkunst habe ja auch vorausgesagt: "Du wirst dich nie zu Hause fühlen." Petkovic hätte sich "mehr klassische Erzähltechnik" gewünscht und nannte die Autorin "eine Meisterin des Weglassens". Als die Sportlerin auf ihren Lieblingsverein Tottenham Hotspur zu sprechen kam und Mentzer die Verbindung zu einer Shakespeare-Figur in "Henry IV." zog, hatte Spiegel "einen neuen Lieblingsverein" gefunden. Dennoch wandte er ein, man müsse viel über Zeitgeschichte wissen, um der Autorin folgen zu können.
Dann stellte er Judith Hermanns neuen Roman vor, der unter dem Titel "Daheim" bei S. Fischer erschienen ist: "Auch diese plastischen Figuren haben kein Zuhause." Spiegel wusste vor allem "den Wechsel aus Präzision und Unschärfe" zu schätzen: "Spannend geschrieben und entschlackt. Das tut gut." Delius konstatierte "wenig Affekte", Mentzer sprach von einer Aversion der Autorin gegen psychologische Erklärungen. Petkovic, die Romane mit Psychologie liebt, fand das Buch "zäh", aber als "impressionistisches Gemälde" wusste sie es zu schätzen. Von "trostlosen Verhältnissen" sprach Spiegel, von einer Frau, die nur im Hafenbecken schwimme, weil sie Angst habe vor dem offenen Meer. Ein "atmosphärisches Mobile" zwischen Freiheit und Begrenzung nannte Mentzer den Roman, aber: "Gelungen." "Absolut", kam das Echo von Spiegel.
Auch J. D. Salinger mit seinem pubertierend-fluchenden "Fänger im Roggen" (Kiwi) fand allgemeines Wohlgefallen und bestand damit den "Haltbarkeitstest". Petkovic war "total verliebt" in den Außenseiter Holden Caulfield und hätte ihn am liebsten zu einem brauchbaren Menschen erzogen. Er sei ja auch im Grunde "ein gutherziger Bursche", bestätigte Spiegel und zitierte aus Hesses Rezension von 1954: Das Buch führe "vom Ekel zur Liebe". Mehr könne Dichtung nicht erreichen.
CLAUDIA SCHÜLKE
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