Vier Jahre nach dem Nobelpreis: Patrick Modianos neues Meisterwerk seiner Erinnerungskunst
Der Vater trifft sich mit dubiosen Russen auf dem Schwarzmarkt, die Mutter spielt als Schauspielerin in Pigalle. Der Sohn, in Paris auf sich allein gestellt, verkehrt mit rätselhaften Frauen: Madeleine Peraud, eine Esoterikspezialistin, mit der er die Liebe zu bestimmten Büchern teilt, bietet ihm an, bei ihr einzuziehen. Madame Hubersen, die den heißen Sommertag schnapstrinkend im Café verbringt, soll er abends nach Hause bringen. Mit einer dritten, namenlosen, die in einer fremden Wohnung nachts einen Mann erschossen hat, wird er fliehen und ihr helfen, die Spuren zu verwischen. Fünfzig Jahre später versucht der Erzähler, seine Jugenderinnerungen wie Teile eines Puzzles zusammenzufügen. Und vermischt dabei, auf Modianos unnachahmliche Weise, Traum und Wirklichkeit, Fakt und Fiktion.
Besprechung vom 26.08.2018
Wiederfinden, wer man gewesen ist
Der Sound von Modiano: Der Literaturnobelpreisträger hat einen neuen Prosaband und erstmals auch ein Theaterstück geschrieben
Zu den schönen Nebenwirkungen, wenn man ein neues Buch von Patrick Modiano liest, gehören die Linien und Querverbindungen, die sich dann immer wieder zu den vergangenen Büchern ergeben, bis ein kleines Raster entsteht: Straßen, von denen man schon gehört hat, Personen, deren Namen gefallen sind, Orte, die einem bekannt vorkommen. Und manchmal gerät man dabei sogar in die eigenen Erinnerungen, weil ein Bild auf einmal ein anderes freisetzt.
In Modianos neuem, schmalem Prosaband "Schlafende Erinnerungen", dem ersten, seit er 2014 den Literaturnobelpreis bekam, spricht Jean, der Ich-Erzähler, der nicht Modiano ist, es aber in vielerlei Hinsicht sein könnte, von der Pariser Metro, er erwähnt "all die Punkte auf dem Netzplan, die aufleuchteten, wenn man die Knöpfe für eine Verbindung drückte". Wenn man diese Pläne als Kind noch selber gesehen hat, ist beim Lesen sofort die Faszination wieder da, die einen packte, wenn man davorstand. Auf der Armatur neben dem Fahrkartenschalter gab es für jede Station einen Knopf, und sobald zwei gedrückt waren, leuchtete auf der großen Karte eine farbige Linie quer durch Paris, gerade, diagonal, kurz abbrechend, mehrfarbig, wenn ein Umsteigen in eine andere Linie nötig war, um ans gewünschte Ziel zu kommen. Man hätte stundenlang davorstehen wollen.
Keine Ahnung, wann diese wunderbare Orientierungshilfe abgeschafft wurde, die einem heute wie ein analoger Vorschein von GPS vorkommt. Modiano würde das sicher wissen. Als Metapher für die Topographie seiner Romane und Geschichten hat dieser Netzplan einen unwiderstehlichen Reiz. Man könnte, nur zum Beispiel, in den "Schlafenden Erinnerungen" lesen, die Namen von Straßen und Plätzen notieren, sie auf einem Pariser Stadtplan suchen und einfach schauen, was für ein Muster dabei herauskommt: quer durch die Arrondissements, von der Wohnung am Boulevard Sérurier zur "Buchhandlung für okkulte Wissenschaften" in der Rue Geoffroy-Saint-Hilaire und von dort zur Avenue Rodin, in der eines Tages, im Salon einer Wohnung im Haus Nr. 2, Ludo F. tot auf dem Teppich lag.
Man wird nun nicht, wie Jorge Luis Borges sich das ausmalte, in einem solchen "geduldigen Labyrinth der Linien das Bild seines eigenen Gesichts" wiedererkennen, aber man hat ein Netz, das quer durch die Zeiten reicht, das Episoden verknüpft, ohne dass man hinter die Regeln der Verknüpfung käme, die einen vergangenen Sommer auf einmal mit dem 1. Februar 2017 verbindet.
Modiano ist von der ersten Seite an in seiner Welt, nach zwei, drei Noten schon ist da die vertraute Melodie. Jean ist 1965 zwanzig Jahre alt, er streunt durchs Leben, ist einsam, die Eltern sind schemenhafte Gestalten; über die Leute, mit denen er zu tun hat, weiß er nicht viel. Und weil Erinnerung bei Modiano nie geordnet oder linear ist, weil sie nicht etwas ist, in das man eintaucht und worin man versinkt, beginnen bald die kleinen Überblendungen.
Über die Erinnerung an einen Mann, den Jean damals kannte, legt sich das Bild einer zufälligen Begegnung mit ihm in den siebziger Jahren. Und wenn er von Geneviève Dalame erzählt, mit der er befreundet war und das Interesse am Okkulten teilte, an deren zwielichtigen Bruder er sich so gut erinnert, weil der einen Blouson aus Leopardenfellimitat trug, dann lässt er sofort auch den Abstand eines halben Jahrhunderts spüren. "Zufällig war ich sogar erst vor vierzehn Tagen dort", heißt es über einen Ort, an dem er sich vor fünfzig Jahren mit Gleichgesinnten traf. "Ich war überzeugt, wieder in der Vergangenheit angekommen zu sein."
Das ist der Rhythmus von Modianos Erzählen, daraus entsteht dieser unnachahmliche Sog. Es sind immer nur Fetzen, Partikel, Episoden, die einem zufliegen, die sich festhalten lassen, ohne die Hoffnung, jemals eine komplette Ansicht zu bekommen. Die Teleologie eines Puzzles, in dem irgendwann alles passen muss, ist Modiano fremd. Deswegen kann es auch keinen Plot, keine fortschreitende Handlung in seinen Büchern geben. Der tote Ludo F., die Frau, die ihn "aus Versehen" umbrachte und der Jean dabei half, für eine Weile abzutauchen, das ergibt keinen Kriminalfall. Höchstens dessen Andeutung.
Modiano variiert in "Schlafende Erinnerungen" seine vertrauten Motive: die schlafwandlerische Bewegung durch Paris, die unvollständigen Listen mit Namen, Telefonnummern oder Straßen, die es nicht mehr gibt. Die Vergangenheit kann dabei auch zur Sinnestäuschung werden, wie eine Fata Morgana, dann erscheint der Montmartre im Sommer 1965 "mir plötzlich als eingebildeter Montmartre". Jean, darin ganz Modiano, hört deswegen nicht auf, nach den "Geheimnissen von Paris" zu suchen, im Bewusstsein, dass er sie nie ganz enthüllen wird.
Er hat sich dabei etwas bewahrt, worin man Rudimente okkulter Neigungen erkennen könnte, wenn Jean davon erzählt, wie er beschloss, einzelne Passagen aus alten Notizen zum Fall Ludo F. "unter die Seiten eines Romans zu mischen, wie ich es vor dreißig Jahren getan habe": in der Hoffnung, durch diesen Transfer werde die Linie zwischen Wirklichkeit und Traum unsichtbar. Wen das interessiert: 1987, dreißig Jahren vor Erscheinen der "Schlafenden Erinnerungen" auf Französisch, hat Modiano nichts veröffentlicht.
Neu und überraschend ist nun, dass die "Schlafenden Erinnerungen" nicht einfach für sich allein stehen sollen. Modiano hat ein Theaterstück geschrieben, das "Unsere Anfänge im Leben" heißt und das er als Pendant zu den "Schlafenden Erinnerungen" versteht. Einmal ist auch in dem Prosaband die Rede von "unseren Anfängen im Leben". Überraschend ist das, weil Modiano ja schon Drehbücher geschrieben hat und weil sich sein Erzählen nun mal am treffendsten beschreiben lässt mit Vergleichen, die aus der Welt des Kinos stammen, ob das nun die Doppelbelichtung ist oder die Überblendung, die Montage oder die Rückblende.
Erstaunlich an dem Theaterstück ist die Selbstverständlichkeit, mit der Modianos Erzählweise die andere Gattung von der ersten Szene an durchdringt. Jean taucht anfangs als Silhouette auf, er spricht ein paar Sätze, doch sobald die Bühne hell wird, ist man in der Vergangenheit, an die er sich erinnert. Diese Übergänge lesen sich zauberhaft leicht, die Zeiten verlaufen ineinander wie Wasserfarben. In dem Theaterraum, der auch der Schauplatz des Stücks ist, wird Tschechows "Möwe" geprobt, deren Figurenkonstellation der von Modianos Stück oberflächlich gleicht.
Ob solche Wirkungen sich nun auch in einer deutschen Stadttheateraufführung einstellen werden, wird man sehen - wenn man es sich denn ansehen will. Das Stück jedenfalls ist kurz und kompakt. Es gibt fünf Rollen: den jungen Jean, ein Schauspielersohn und angehender Schriftsteller; seine Freundin Dominique, eine junge Schauspielerin, beide 20 Jahre alt; dazu Jeans bitter gewordene Mutter Elvire, deren unsympathischen Lebensgefährten Caveux und Bob, den Bühnenmeister. Jean trägt sein Romanmanuskript in einer Schulmappe mit sich herum, die er sich mit einer Art Handschelle am Handgelenk befestigt hat. Frostig ist das Klima zwischen Jung und Alt, voller Eifersucht und voller Vorwürfe.
Dennoch sind auch hier ein paar der Modiano-Motive unübersehbar: die gespenstergleiche Existenz der Mutter und ihres Lebensgefährten, die Präsenz des Vergangenen, die im Theater sprechend ist: "Diese Wände, die Bühne und die Balkone sind erfüllt von den Stimmen all jener, die hier gespielt haben." Und natürlich ist auch dieses Stück eine große, fragmentarische Erinnerung an die sechziger Jahre, an die verschollene Liebe zu Dominique, die Jean aus den Augen verloren hat. Ihm fällt ein, wie und wo sie einander kennenlernten, in einem Café an der Place Blanche, vor fünfzig Jahren. Allein auf der leeren Bühne stehend, sagt er nur: "Seit jenem Herbst gehen wir die Steigung der Rue Blanche hinauf bis ans Ende der Zeiten."
Wie der Prosaband mit dem Stück verschränkt ist, so das Stück mit dem Buch. Er müsse das alles aufschreiben, in einem Roman, sagt Dominique, und Jean entgegnet: "Nein. Eher in einem Theaterstück." Man kann auch darin eine kleine alchimistische Reaktion sehen: Die Überführung von etwas wirklich Geschehenem in einen Roman oder ein Stück soll das Faktum in Fiktion verwandeln und womöglich auch Spuren verwischen. So lässt sich vielleicht die Macht der Tatsache brechen; oder der leise Schmerz um Verlorenes lindern. "Und doch", sagt Jean am Schluss, "in manchen Vierteln findet man plötzlich wieder den, der man gewesen ist."
Den einmaligen Flow der Prosa hat das Stück nicht. Man liest es, weil es von Modiano ist: ein neuer Ort in der großen Landschaft des Erinnerns, im Paris der vielen Jahrzehnte, über das sich Modianos Prosa wie ein Netz aus Namen, Orten, Straßen gelegt hat. Und die vielen Punkte werden, wie auf dem Netzplan, von farbigen, leuchtenden Linien verbunden. Man kann an diesen Linien auch ablesen, was Patrick Modiano von dem anderen großen erinnerungsbesessenen Zeitreisenden unterscheidet; von dem, was bei Marcel Proust die "wiedergefundene Zeit" heißt.
In "Schlafende Erinnerungen" gibt es eine sehr schöne Passage, die das wie nebenbei erklärt: "Wenn man in denselben Stunden, an denselben Orten und unter denselben Umständen noch einmal erleben könnte, was man bereits erlebt hat, es aber viel besser erleben würde als beim ersten Mal, ohne die Fehler, Hindernisse und Leerläufe . . . das wäre so, wie ein Manuskript voller Streichungen ins Reine schreiben . . ."
PETER KÖRTE
Patrick Modiano: "Schlafende Erinnerungen". Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, 112 Seiten, 16 Euro
Ders.: "Unsere Anfänge im Leben". Theaterstück. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, 110 Seiten
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