Besprechung vom 01.06.2024
Zwei Meilen bis zum Antwortmann
Wie kommt das Böse in die Welt? Stephen Kings sehr amerikanischer Erzählband "Ihr wollt es dunkler" gibt einige rätselhafte Hinweise.
You want it darker / We kill the flame": Diese Worte sind das Vermächtnis des Sängers Leonard Cohen. Im gleichnamigen Lied, veröffentlicht 2016 kurz vor seinem Tod, sind sie vielfältig deutbar: Sie könnten sich an einen anderen Menschen richten, mit dem erbittert der Bund gebrochen wird. Sie könnten sich auch an Gott richten, und das darin sich äußernde "Wir" wäre dann das einer der Theodizee überdrüssigen Menschheit, die sich dem offenbar unabwendbaren Leid fügt und selbst das Licht ausmacht. Im Titel von Stephen Kings neuem Band mit Erzählungen klingt "Ihr wollt es dunkler" (im Englischen etwas milder: "You Like it Darker", aber mit ausdrücklicher Danksagung an Cohen am Ende des Bandes) dagegen wie eine Leseransprache: Sagt der Altmeister des Horrors damit also seinen Fans, dass er ihnen ja immer nur gegeben hat, was sie wollen, delegiert also die Existenz und Form des Bösen aus seiner Phantasie in ihre? Das wäre eine Lesart, die zum Beispiel rechtfertigen könnte, warum in der ekelerregenden Geschichte "Die Träumenden" einem Toten "schwarze Tentakel" aus der Nase hängen, nachdem ein Ungeheuer in ihn gefahren ist. Aber ist das wirklich die behauptete Realität dieser Geschichte, oder wollen die Leser es nur glauben, weil sie solchen übernatürlichen Horror erwarten?
An "Die Träumenden" lässt sich manches für King Typische beobachten. Am Anfang steht eine etwas holzschnittartige Figur: "Der junge Mann, der aus Vietnam zurückkehrte, war nämlich nicht mehr derselbe junge Mann, den sie dort hingeschickt hatten. Ich hatte keinerlei Emotionen, nur noch eine Leere in mir."
Bald aber wird der Holzschnitt ergänzt durch erstaunliche Details: Der Veteran, der hier in den Siebzigerjahren seine immer grotesker werdende Geschichte erzählt, ist begnadeter Stenograph. Das führt ihn in die Dienste eines Pseudowissenschaftlers, der einen "phlegmatischen Assistenten" sucht und seltsame Drogenexperimente mit Probanden durchführt. Es geht darum, unter Lektüre-Einfluss von C. G. Jung und H. P. Lovecraft die "Mauer des Schlafes" zu durchbrechen oder darunter durchzuschlüpfen, um das Unbewusste sichtbar zu machen, gar die Tür zum Universum zu öffnen, was auch immer das bedeuten mag.
Als ein Experiment dramatisch schiefgeht und die beschriebene Ekelszene erzeugt, wird der Erzähler vom Protokollanten zum Täter. Während die Drastik der aus dem Schlaf der Vernunft geborenen Ungeheuer zunächst Wirklichkeit zu behaupten scheint, eröffnet sich mit fortschreitender, erst recht wiederholter Lektüre eine weitere Lesart: nämlich die, dass der Erzähler selbst verrückt ist. Hatte nicht dieser Veteran zugegeben, im Horror von Vietnam an den Rand des Wahnsinns geraten zu sein? Warum also sollte man ihm seine steile Geschichte glauben, die auch die absurde Rechtfertigung eines Mannes sein könnte, der durch posttraumatische Belastung zum Mörder geworden ist? Solche hermeneutischen Spielchen machen Kings Erzählungen zu einem Vergnügen, zumal wenn sie auch noch so poetisch übersetzt sind wie hier von Marcus Ingendaay, der eine Nebenfigur wie folgt beschreibt: "Pearson, ein Schluck Wasser mit Schummelscheitel".
Andere der von insgesamt zehn Übersetzern ins Deutsche gebrachten Erzählungen, von denen einige sehr kurz sind und andere fast Kurzromane, klingen schlichter, bisweilen auch etwas holprig. Manchmal holpern auch Kings Ideengänge, wenn er uns mal eben auf dreißig Seiten die gesamte Lebensgeschichte eines Menschen erzählen will und dabei so manches amerikanische Klischees mit auftischt, von sehr viel Kaffee mit Donuts und Hamburgern über Fahrten in verbeulten Pick-up-Trucks bis zu Baseball-Träumen ("Vielleicht wirst du eines Tages da draußen sein, Jake", sagt ein Großvater zum Enkel auf der Tribüne beim Red-Sox-Spiel). Aber Klischee hin oder her: Oft wecken diese Elemente auch Nostalgie, da zumindest das Kaffee-und-Donut-Amerika mit seinen inhabergeführten Diners wohl bald verschwunden sein wird. Und andererseits kommen solche Klischees bei King selten ohne ihre Kehrseite: In einer anderen Geschichte sagt ein Enkel zum Großvater: "Wir wollen keine verfickten Baseballkarten!"
Nostalgie lässt der aus Maine stammende, heute 76 Jahre alte Stephen King insbesondere in Bezug auf die Landschaft Neuenglands und deren herbstliche Blätterfärbung aufkommen. Der Opener "Zwei begnadete Burschen" etwa spielt wieder in der fiktiven Kleinstadt Castle Rock, die bei ihm einen Werkzyklus prägte, und neben detaillierten Straßenbeschreibungen liest man darin auch von einem Lebensmittelgeschäft, in dem die Männer ehedem "um ein Gurkenfass sitzen". Vielleicht sind sie es, die sich die steilen Geschichten erzählen? Deren Phantastik ist bisweilen haarsträubend, nebst Aliens und dem schon bekannten Horrorbernhardiner Cujo.
Das metaphorisch dick aufgetragene Schwarz der Storys ist auch eine Verbeugung vor dem kürzlich verstorbenen Cormac McCarthy, dem King eine davon widmet. Und obwohl er wie Leonard Cohen die Menschheit ins Dunkle driften sieht, steckt doch in seiner Schlussgeschichte "Der Antwortmann" ein Senfkorn Hoffnung. Darin trifft der Erzähler, geleitet durch das plötzlich auftauchende Straßenschild "Zwei Meilen bis zum Antwortmann", dreimal im Leben auf denselben Hellseher, der ihm zwar nicht die allerletzten Dinge verrät, auf ein ganzes Bündel existenzieller Fragen, darunter "Fahren wir zum Himmel auf?" und "Wird es schrecklich sein?", aber pauschal mit "Ja" antwortet. JAN WIELE
Stephen King:
"Ihr wollt es dunkler".
Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner, Jürgen Bürger, Karl-Heinz Ebnet,
Gisbert Haefs, Marcus Ingendaay, Bernhard Kleinschmidt, Kristof Kurz,Gunnar Kwisinski, Friedrich Sommersberg und Sven-Eric Wehmeyer. Wilhelm Heyne Verlag, München 2024.
736 S., geb.
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