Besprechung vom 24.02.2021
Führ mich an den Fluss des Lebens
Spracherwerb wird großgeschrieben: In T. C. Boyles Roman "Sprich mit mir" bringt ein Wissenschaftler Menschen und Affen zusammen
Die Geschichte beginnt im Jahr 1978. Sie fängt damit an, dass Aimée Villard, eine Studentin der Frühpädagogik, das neue Album der Band Talking Heads hört, immer und immer wieder deren Version von "Take Me to the River", als sollte der Text des Lieds ein Omen sein. Aimée - der Name ist Programm -, die nicht weiß, wohin mit sich und ihrem Leben, sieht in einer Fernsehshow den jungen Wissenschaftler Guy Schermerhorn von ihrer Universität in Kalifornien, "der behauptete, er bringe Affen das Sprechen bei"; er hat seinen Auftritt mit dem Schimpansen Sam. Sie bewirbt sich als Hilfskraft bei Schermerhorn, der in einer Ranch versucht, Sam wie ein Menschenjunges aufzuziehen, einschließlich des Spracherwerbs in Form von Gebärdensprache.
Sam hat seine verspielten, witzigen Seiten, verfügt allerdings zugleich über ein unberechenbares Aggressionspotential; während er gemeinhin wie ein verzogenes Kleinkind funktioniert, hat er gerade eine Studentin, die zum Pflegepersonal rund um die Uhr gehört, ins Gesicht gebissen.
Sam hat keinen Moment seines bisher dreijährigen Lebens in freier Wildbahn verbracht; er wurde seiner leiblichen Mutter entrissen, die dafür mit einer Betäubungsspritze hilflos gemacht war. Von Beginn an lässt T. C. Boyle, ohne mit einem einzigen Satz zu moralisieren, keinen Zweifel daran, für wie fragwürdig er derartiges Vorgehen im Namen der Forschung hält. Er erzählt lieber bildhaft und rasant über die Zustände auf der Ranch. Sam kann einfach SÜSS sein, und SÜSS ist auch eines der vielen Wörter, die er gebärden kann. Darüber hinaus scheint er begriffen zu haben, dass es zu gutem Erfolg, zu SÜSSIGKEITEN zum Beispiel, führt, wenn er sich den Erwartungen gemäß verhält. Entsprechend kann er, wenn es um Essen geht, PIZZA MIT ALLEM verlangen, aber auch, wo es um sein körperliches Wohlgefühl geht, deutlich komplexere Zusammenhänge wie GIB MIR UMARMUNG formulieren.
Als Aimée vor dem Haus auftaucht, ist er - "Schimpansenhumor" nennt sich das - wieder einmal am Entwischen. Plötzlich ereignet sich eine Erstkontaktszene: "Er sah über die Schulter zu Guy, der sich gerade auf ihn stürzen wollte, gebärdete TUT MIR LEID, TUT MIR LEID und sprang ihr in die Arme." Sam, der juvenile Menschenaffe, hat Aimée erwählt, eine Umkehrung des geltenden Herrschaftsverhältnisses zwischen Mensch und Tier. Aimées und sein Schicksal sind besiegelt, in einer Wahlverwandtschaft, einer archaischen Dyade. Daran ändert nichts, dass Aimée mit Schermerhorn ein Verhältnis anfängt. Es ist eine Liebe, eine amour fou, die das ungewöhnliche Duo auf einen Roadtrip schickt, auf eine große Flucht. Ihm atemlos folgen zu müssen, darin liegt die erzählerische Meisterschaft von T. C. Boyle.
"Sprich mit mir", jetzt zuerst auf Deutsch erschienen, ehe der Roman im Mai in Amerika herauskommt, ist sorgfältigst durchkonstruiert. Dahinter steht ein allwissender Autor, der aber die Erzählperspektive immer wieder raffiniert in seine Personen verlegt, allen voran in Sam: Wo Sam gebärdet - oder wenn sich in seinem Gehirn die Worte formen, für die er Gebärden kennt -, ist das im Druckbild in Großbuchstaben wiedergegeben. Von enormer Eindringlichkeit ist dieser Kunstgriff, wenn Sam brutal aus seinem bisherigen Umfeld gerissen wird, eingesperrt in einen kahlen, stinkenden Käfig, um ihn herum in ihren Käfigen andere Schimpansen. SCHLÜSSEL SCHLOSS RAUS gebärdet er verzweifelt. Die leidenden schreienden Artgenossen kann er nicht als solche identifizieren, seine Selbstwahrnehmung ist die einer menschlichen Gestalt. SCHWARZE KÄFER sind die anderen Affen für ihn; einzig sehen kann er, dass sie die gleichen schwarzen Füße haben wie er. Das ist eine großartige zentrale Beobachtung: Wie entwirft sich ein Wesen, dem ein nicht wahrhaftiges Bild von sich selbst antrainiert wurde, in der Begegnung mit anderen seiner Spezies? Es ist ein Grundproblem der - menschlichen - Sozialisation überhaupt.
Zu Sams verzweifelter Lage kommt es, weil sein eigentlicher Besitzer Donald Moncrief, ebenfalls Professor und Chef von Guy Schermerhorn, ihn in seine Affenzuchtanstalt in Iowa zurückholt, nachdem das gesamte Spracherwerbsprojekt nach einigen Jahren Laufzeit in einem wissenschaftlichen Beitrag als sinnlos verworfen wurde, mithin die Forschungsgelder dafür auszubleiben drohen. Hier liegt der reale Kern von T. C. Boyles Geschichte. In den sechziger und siebziger Jahren wurde die Menschennähe der Schimpansen in Langzeitversuchen erforscht bis hin zur Fähigkeit, erlernte Gebärden sinnvoll zu kombinieren. Im Roman fallen zwei Namen: Die Verhaltensforscherin Jane Goodall hatte in Tansania bahnbrechende Erkenntnisse über die Fähigkeiten der Schimpansen überhaupt gewonnen. Doch es war der Linguist Noam Chomsky, der scharf deren Begabung zum menschenanalogen Spracherwerb bestritt. In "Sprich mit mir" ist es der Aufsatz eines Kollegen Schermerhorns, der Chomskys Position einnimmt, nachdem er selbst jahrelang an dem ehrgeizigen Programm teilgenommen hatte.
Mit Donald Moncrief entwirft Boyle eine furchtbar zynische Figur, einen Quäler als Gegenspieler, der jedoch nur sein Recht einfordert. Es ist noch die Zeit, in der Tiere als Sachen gelten, ein Zuchtschimpanse ist 10 000 Dollar wert, sonst immerhin noch für die medizinische Forschung verwertbar. Moncrief ist zudem gezeichnet, er trägt eine schwarze Augenklappe, ein wütender Schimpanse soll ihm ein Auge mit dem Finger ausgestochen haben; seine eigene Aggressivität gibt dafür den - blinden - Spiegel ab. Aimée, die Sam in Moncriefs Kerker gefolgt war und dort als Pflegerin arbeitet, gelingt es, ihn in einem riskanten nächtlichen Manöver aus dem "Schimpansenstall" zu befreien; DU ICH GEHEN hatte er ihr flehend gebärdet. Was sich nur Schicksal nennen lässt, nimmt von nun an seinen Lauf. Die Zeilen des Lieds, wie es die Talking Heads singen, kehren wieder als entscheidendes Kapitel: "Hug me, tease me, love me, squeeze me"; und eine Taufe wird geschehen, mit ein wenig Weihwasser, "dip me in the water".
T. C. Boyles Roman beschreibt eine unerhörte Anmaßung, es ist die des Menschen, ein ihm genetisch so nahestehendes Geschöpf nach seinen Maßstäben formen zu wollen. Das gilt so, trotz allem Willen zum Wissen und trotz aller tiefen Zuneigung. Das reicht weiter als der Ehrgeiz des jungen Forschers Schermerhorn und als ein bloßes tragisches Missverständnis. Es kommt der Moment, in dem Aimée es begreift: "Wenn er lächelte, zog er die Lippen zurück, so dass man Zahnfleisch und Zähne sehen konnte, und genau das tat er jetzt. Er war komisch und liebenswert und noch etwas anderes - sie sah es zum ersten Mal, und es jagte ihr einen Schauer über den Rücken: Er war berechnend. Er war kein Mensch, aber auch kein Tier, sondern etwas dazwischen, etwas Unnatürliches, Deformiertes." Aimée blickt ihrer Verantwortung und Schuld in die Augen; deshalb ist sie es, die am Ende ihrer weiten Reise mit Sam die einzig mögliche Konsequenz zieht. "Sprich mit mir" ist eine so ergreifende wie beglückende Lektüre, weil Glück im Mitleiden liegt, im Pathos und im Verstehen. ICH BIN SAM lautet das Vermächtnis der zugerichteten Kreatur.
ROSE-MARIA GROPP
T. C. Boyle: "Sprich mit mir". Roman.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2021. 349 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.