Caledonian Road, kurz Cally genannt, ist eine Londoner Straße im Stadtteil Islington, und dort wohnt der Protagonist: Professor Campbell Flynn, ein ambitionierter Kunsthistoriker, bekannt und geliebt für seine Kolumnen. Flynn ist ein gesellschaftlicher Aufsteiger, der sich aus den Arbeitervierteln Glasgows durch seine Heirat mit der jungen Gräfin Elizabeth in die höchsten Gesellschaftskreise katapultiert hat. Er freundet sich an mit Milo Mangasha, einem seiner Studenten, dessen Mutter vor dem Bürgerkrieg aus Äthiopien geflüchtet war, und engagiert ihn als Forschungsassistent.
Von diesem Kern ausgehend, entfaltet der Autor ein gewaltiges Panorama Englands in der Zeit nach dem Brexit und nach Corona. Ein ebenso gewaltiger Figurenreigen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und beruflichen Schichten tritt auf. Zeitungsleute, Freunde des Forschungsassistenten, die upper class, Klimaaktivisten, missratene Söhne, Politiker, Medienleute, Straßenrowdies etc. es gibt keine gesellschaftliche Gruppe, die der Autor nicht in sein Panorama hineinzieht. Bis hin zum brisanten Thema der Raubkunst (Wir sind ein Volk von Dieben) und der fehlenden Aufarbeitung des britischen Imperialismus, die Flynn provokant und mit Vehemenz einfordert.
So unterschiedlich die Gruppen auch sind: alle sind sie miteinander verbunden durch ihre Gier nach Macht und Geld und ihre schmutzigen Geschäfte. Niemand ist sich nicht zu schade, sozial gebundene Gelder zu veruntreuen, zu schmuggeln und zu hehlen und sich an illegalen Arbeitern und Migranten zu bereichern, die wie Sklaven ausgebeutet werden. Dazu kommt nach dem Brexit der Ausverkauf Englands an russische Oligarchen und Kleptokraten zum Zwecke der Geldwäsche und die wachsende Abhängigkeit von russischem Geld. Und das Versagen der Finanzmarktaufsicht und auch der Steuerbehörden, denn Herkunft und Vermögen bleiben untrennbar miteinander verbunden.
Flynns Forschungsassistent Milo erweist sich als begnadeter Hacker und spürt den dubiosen Geschäften und Verwicklungen der upper class nach. Er fasst seine Aktivitäten als privaten Rachefeldzug an einer erstarrten und moralisch verderbten Gesellschaft auf. Dabei macht er auch vor seinem Gönner Campbell nicht halt. Campbell Flynns Freund aus Studientagen, William Byre, ist das erste Opfer, und sein Absturz wirkt wie ein Wetterleuchten vor der nahenden Katastrophe.
Ein sehr deprimierendes Bild des heutigen Englands! Der Autor vermittelt diesen schwergewichtigen und düsteren Stoff aber sprachlich leicht und flüssig. Vor allem sein Sinn für Komik und Süffisanz, die der Sprecher sehr schön herausarbeitet, machen das Hören bisher zu einem Vergnügen. Ob das die Wellness-Verrücktheit mit Winterschneckenschleim-Gesichtsmasken ist oder der Kunstmarkt ist, der ein abgebrochenes Gipsohr zum teuren Objekt hochstilisiert: man muss über diese grotesken Auswüchse lachen. Je deutlicher sich aber die Katastrophe abzeichnet, um so mehr vergeht dem Leser das Lachen.
Ein opulentes Panorama. 50 Stunden Hörzeit und keine Sekunde langweilig.