Dass du dein achtjähriges Kind weggegeben hast, in ein fremdes Land, zu fremden Leuten, ohne zu wissen, ob du es jemals wiedersehen wirst? Die jahrelange Ungewissheit, ob es Moritz gut geht? Dass du nicht dabei sein durftest, als er aufwuchs, nicht erleben konntest, wie seine Stimme dunkler und männlicher wurde? Dass du nicht weißt, wie es sein wird, ihn nach fast neun Jahren wiederzusehen?
Ist es Glück oder nicht, dass sie, Kinderärztin Helene Bornstein im Jahr 1947 nun endlich auf dem Dampfer nach New York steht und schon bald ihren Sohn Moritz wieder in die Arme schließen kann? Schreckliche Selbstvorwürfe quälen sie und die Angst, wie es sein wird ist groß. Wie wird das Wiedersehen ausfallen? Kann er sich überhaupt noch an seine Mutter erinnern? Wie lebt er heute?
Als Leser darf man Helene auf ihrem Weg nach New York und bei ihrem Start ins neue Leben dort begleiten. Man erfährt von ihren Hoffnungen, von ihren enttäuschten Erwartungen und den Missverständnissen, die die Familienzusammenführung äußerst schwer machen. Gleichzeitig darf man in zwischengeschobenen Abschnitten zurück auf die Jahre 1925 bis 1945 blicken und erfährt so vom schrecklichen Schicksal, das sie durchlebt hat, das sie nun nicht loslässt und sie auch prägt.
Die Autorin beleuchtet mit ihrem Roman die Hoffnung der jüdischen Bevölkerung, dass der Spuk bald vorbei ist, das Abwägen Ausreisen oder nicht, schreibt von brennenden Synagogen, Plündereien von jüdischen Geschäften und auch von den schrecklichen Deportationen der Juden. Sie stellt aber nicht nur die Schrecken der Nazidiktatur aufrüttelnd und bewegend dar, sondern zeichnet dabei auch die Rolle der Frau in dieser Zeit äußerst gelungen. »Mir fällt beim besten Willen keine Epoche ein, in der ich lieber gelebt hätte«, pflichtete Marie bei. »Schon allein deshalb, weil es uns Frauen endlich möglich ist, unser Haar abzuschneiden und Bein zu zeigen. Davon konnte meine Mutter als junges Mädchen nur träumen.« oder auch »Aber stimmen Sie mir nicht zu, dass ein Mann seine Karriere ehrgeiziger verfolgen sollte als eine Frau?«, sind nur zwei Beispiele dafür. Gut gefällt mir, dass man auch solch kleine Detailinformationen wie, »Und wie stellst du fest, ob die Frau schwanger ist?« Dass ein Tier, noch dazu eine Maus, darüber Gewissheit bringen sollte, schien ihr zweifelhaft. »Wichtig ist, dass die Mäuse noch nicht geschlechtsreif sind. Von der Urinprobe werde ich ihnen drei Tage hintereinander etwas Harn spritzen. Hundert Stunden nach der ersten Injektion öffnen wir die Bauchdecke der Tiere und legen die Eierstöcke frei. Finden wir dann reife Eizellen und einen vergrößerten Uterus, ist die Frau ziemlich sicher schwanger.« oder auch von den ersten Tupperschüsseln erfährt. »Die Reihenhäuser wurden zur Zeit des Großen Krieges für weiße Mittelschicht- Amerikaner gebaut. Aber Protestanten sollten es sein. Bis vor ein paar Jahren waren Juden in dieser Gegend nicht gerade gern gesehen. Künstler mit ihren unkonventionellen Lebensweisen allerdings genauso wenig, und von denen ziehen auch immer mehr hierher.« Neu und damit für mich sehr interessant war zudem der Blick nach New York so unmittelbar nach dem Krieg,
Die Autorin brauchte nicht lange, bis sie mich mit ihrem bilderreichen, flüssigen und empathischen Schreibstil emotional völlig in ihren Fängen hatte. Es waren zudem zum einen die bewegenden Szenen, von die von den Schrecken der Nazidiktatur erzählen, wie »Sie ist kurz nach unserer Deportation im Lager geboren«, sagt Lisbeth Schwarz, während sie die zu Boden gerutschte Decke aufhebt und vorsichtig über das schlafende Kind ausbreitet. »Auf den Armen eines Babys ist zu wenig Platz für die Kennzeichnung. Da haben sie halt den Oberschenkel genommen.«, die mich betroffen an den Seiten kleben haben lassen. Zum anderen aber auch solche, die mich mitten ins Herz getroffen mit Helene mitleiden ließen wie, wenn sie so enttäuscht ist, weil es so schwierig ist, eine Beziehung zu Moritz und dem Rest der Familie aufzubauen, wie, »Es ist sein letztes Jahr auf der High School und er hat viel zu tun. Lass ihm etwas Zeit, sich an die neue Situation zu gewöhnen.« Marlis Worte versetzen Helene einen fiesen Stich. »Woran denn gewöhnen? Daran, dass ich lebe?« Marlis widerspricht eine Sekunde zu spät. »Blödsinn, Hella! Wie das klingt!« »Wie klingt es denn? Genau das hast du doch gemeint.« Während ich bei den Rückblenden anfangs gespannt gelesen habe, neugierig wie es dazu kam, dass Helene sich dazu entschieden hat, ihren Sohn ins Ungewisse zu verabschieden ihn wegzugeben, hat die Spannung, wusste ich ja, dass sie überlebt, dann die Betroffenheit durch die Schilderung der schrecklichen Ereignisse abgelöst. Im anderen Erzählstrang habe ich gebannt darauf gehofft, dass sich am Ende doch noch Mutterglück für sie einstellen kann, schön deshalb auch, dass dass die Geschichte mit einem Kapitel endet, in dem Helene schon zehn Jahre in Amerika lebt und man so als Leser auch erfährt, wie sich alles weiterentwickelt. Noch bewegender macht das Ganze natürlich auch die Tatsache, dass die Autorin nicht alles gänzlich erfunden, sondern aus dem wahren Schicksal einer jüdischen Kinderärztin eine fiktive Geschichte gestrickt hat. Schon alleine deshalb ist der Roman wert gelesen zu werden, viel mehr solcher fesselnder, bewegender Schicksale sollten möglichst viele Leser aufrütteln, sind sie doch ein so wesentlicher Beitrag gegen das Vergessen.
Helene, ist wie alle anderen Charaktere äußerst facettenreich, authentisch und realistisch dargestellt. Der Autorin gelingt es alle extrem lebensecht und in ihrem Sein nachvollziehbar darzustellen. Ich konnte mich nicht nur mehr als gut in alle hineinversetzen, sondern nach und nach auch immer besser verstehen, warum sie so sein müssen, wie sie sind. Eine insgesamt tolle Figurenzeichnung, bei der alle eine Entwicklung durchlaufen, die durch die Rückblicke spannend gemacht ist, zeigt sie sich doch nur schrittweise und allmählich.
Ich habe teilweise gelesen, teilweise gehört, ja in Kombination kann man die fesselnde Geschichte noch schneller verschlingen. Ich weiß nicht, ob ich nur in der Hörvariante konstant und vor allem so gut wie am Stück, die mit 18 Stunden, 18 Minuten doch recht lange Zeit über, komplett so aufmerksam sein hätte können. Unheimlich gerne habe ich aber einen großen Teil der Zeit der mir äußerst angenehmen Stimme, der mir bis dato völlig unbekannten Sprecherin zugehört. Chris Nonnast gelingt es ganz vorzüglich den Charakteren Leben einzuhauchen und die Atmosphäre der Szenen gelungen zu transportieren.
Alles in allem ein bewegend, fesselnder Roman, der vom entsetzlichen Schicksal einer jüdischen Familie, von den Schrecken der Nationalsozialisten, dem Zweiten Weltkrieg und den Auswirkungen auf das Leben danach erzählt und dabei auch nach Amerika blickt. Eine großartige Familiengeschichte, die ihre fünf Sterne redlich verdient.