Besprechung vom 30.10.2024
Von der Fehlbarkeit der Päpste
Wo die Uhren noch etwas anders gehen: Hubert Wolf lässt sich bei seiner Arbeit im ehemaligen Geheimarchiv des Vatikans über die Schulter schauen.
Das Apostolische Archiv in Rom kann man nur mit einem Visum und durch einen Grenzübertritt an der von der Schweizergarde bewachten Porta Sant'Anna betreten. Dabei ist es ein viel unspektakulärerer Ort, als sich es etwa der Bestseller-Autor Dan Brown ausgemalt hat. Es gibt zwar Korridore voller alter Folianten, aber die Historikerinnen und Historiker, die hier forschen dürfen, sitzen für gewöhnlich in Lesesälen, wie man sie auch anderswo finden könnte - oder sie plaudern in der Bar nebenan. Dennoch: "Wer im Vatikanischen Archiv arbeiten darf", schreibt Hubert Wolf, "für den wird ein Lebenstraum wahr." Auch wenn das Geheimarchiv 2019 von "segreto" in "apostolico" umbenannt wurde, hat es nichts von seinem Nimbus verloren.
Hubert Wolf kennt dieses Archiv wie kaum ein anderer und lässt sich in seinem neuen Buch nun bei der historischen Detektivarbeit über die Schulter blicken. Auf knapp zweihundert Seiten führt er seine Leserinnen und Leser durch Forschungsgebiete, die vom Index der verbotenen Bücher und der Inquisition bis hin zu den politischen Umbrüchen und Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts reichen. In zehn Kapiteln spürt er Kontroversen der Kirchengeschichte nach, die zum Teil noch heute nachwirken. Unter anderem befasst er sich mit der Beziehung der Kirche zum Judentum, dem Umgang mit der Schoa, aber auch mit Fragen der päpstlichen Unfehlbarkeit und dem Zölibat. Das Buch lässt sich lesen als Einführung in die Archivarbeit im Vatikan, aber auch als Überblickswerk zu einigen der ganz großen Fragen, inneren Konflikten und politisch problematischen Aspekten der Kirchengeschichte.
Gleich zu Beginn stellt Hubert Wolf klar, dass es keineswegs nur ein einziges Archiv im Vatikan gibt. Das (ehemalige) Geheimarchiv ist zwar die größte Quellensammlung der Päpste, aber neben ihm gibt es auch das Archiv des Päpstlichen Staatssekretariats, in dem sich diplomatische Akten befinden, und die Archive der Kongregation "Propaganda Fide", der Kongregation für die Orientalischen Kirchen, und der Apostolischen Pönitentiarie, die für die Kurie Gnadenerweise gewährte. Nicht zuletzt arbeitete Wolf auch in dem bedeutenden Archiv der Glaubenskongregation, welches die Akten der Römischen Inquisition und der Indexkongregation verwahrt.
In diesen Archiven stehen keineswegs alle Quellen der Forschung offen. Erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts begann der Vatikan, zunächst seine mittelalterlichen und später auch seine neuzeitlichen Akten sukzessive freizugeben. Inzwischen hat sich am Heiligen Stuhl der Usus etabliert, dass Päpste die Archivalien ihrer Vorgänger in chronologischer Reihenfolge der Wissenschaft zugänglich machen. Zuletzt öffnete Papst Franziskus 2020 die Archivbestände von Pius XII. (1939-1958), was nun die Sichtung von vatikanischen Quellen aus der Weltkriegs- und Nachkriegszeit erstmals ermöglicht. Neuere Akten sind leider noch immer geheim. Allein für das Pontifikat Pius' XII. gibt es aber circa vierhunderttausend Kartons mit je bis zu tausend mehr oder minder gut geordneten Seiten.
Die Forschung in den geheimen Archiven fällt mithin nicht leicht, zumal im Vatikan viele Uhren noch anders gehen. Zugänge zu den je eigenständig verwalteten Archiven müssen teils aufwendig beantragt werden. Indizes sind in der Regel nicht öffentlich und können nur im Vatikan selbst eingesehen werden, und Kartons zu bestellen gleicht oft einem Glücksspiel: Nur selten kann man vorher schon wissen, was sich wo befindet. Dokumente zu bürokratischen Alltagsvorgängen, Korrespondenzen und Personalia liegen oft neben politisch hochbrisantem Material. Jeder Tag im Archiv kann somit zu Überraschungen oder Enttäuschungen führen. "Manchmal kommt man sich vor wie Heinrich Schliemann beim Ausgraben von Troja", erklärt Hubert Wolf. "Man braucht eine ganze Reihe stratigraphischer Gräben, um die Goldader in einem bislang unbekannten Bestand aufzuspüren."
Wolf selbst ist dies in seinen Forschungsarbeiten schon vielfach gelungen. Besonders hervorzuheben sind in seinem Buch die drei Kapitel zu Papst Pius XII., in denen er sich intensiv mit dem Wissen des Heiligen Stuhls über den Holocaust auseinandersetzt. Bei ihren Forschungen fanden Wolf und sein Team vor allem Bittschriften von Juden und Konvertiten, anhand derer sich ganz klar nachweisen lässt, dass der Heilige Stuhl bereits frühzeitig über den Völkermord informiert gewesen war. Wolfs Arbeit greift somit in eine jahrzehntealte Debatte zum Schweigen des Papstes in der Weltkriegszeit ein. Man erfährt hier zum Beispiel auch mehr über strukturellen Antisemitismus innerhalb der römischen Kurie und über die vielfältigen Verbindungen, die Eugenio Pacelli als ehemaliger Nuntius in München nach Deutschland pflegte.
Wolf gelingt es, in seinem Buch ganz verschiedene Themen und Forschungsfragen zueinander in Beziehung zu setzen. In zahlreichen chronologischen Sprüngen geht es vom Weltkrieg zurück ins neunzehnte Jahrhundert, zum Umgang der Kirche mit Wissenschaftlern wie Darwin und Ranke und auch in die Frühe Neuzeit, zu Galilei und zur Geschichte der Inquisition. Immer wieder stellt sich Wolf auch theologischen Problemen und Fragen nach einer Kirchenreform. Zentral ist dabei die Thematik von päpstlicher Fehlbarkeit. Warum schwieg die Kirche im Lauf der Jahrhunderte immer wieder zu inneren Missständen oder den Problemen der Welt? Warum machte sie so oft Gebrauch von Zensur? Und warum sperrte sie sich gegen Reformen, wie etwa in Fragen des Zölibats oder der Weihe von Priesterinnen? All diese Fragen können sich nur aus den Archiven heraus beantworten lassen.
Hubert Wolfs glänzend geschriebenes Buch wirft einen Blick "hinter die Kulissen der päpstlichen Unfehlbarkeit". Dabei liegt das Hauptaugenmerk jedoch stets auf den Archiven selbst. Nicht nur erhalten die Leser so Einblicke in vatikanische Dokumente. Sie begleiten den Historiker auch in das Archiv und können sehen, worin seine Quellenarbeit tagtäglich besteht. SIMON UNGER-ALVI
Hubert Wolf: "Die geheimen Archive des Vatikan". Und was sie über die Kirche verraten.
Verlag C. H. Beck, München 2024. 240 S., geb.
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