Besprechung vom 30.11.2023
Ophelias Chronistin
Monika Helfers neuer Roman "Die Jungfrau"
Mit Büchern über ihre Familie ist Monika Helfer berühmt geworden. Mit "Die Bagage" gelang ihr 2020 der literarische Durchbruch. Geschrieben hat die österreichische Autorin aber schon viel länger. Und ihr neuer Roman, "Die Jungfrau", handelt nun nicht nur über eine inspirierende Frauenfreundschaft, sondern auch über das, was die Jahre überdauert.
Monika Helfer hat zu ihrer Jugendfreundin Gloria seit fast einem halben Jahrhundert kaum Kontakt mehr. Dann, zum siebzigsten Geburtstag, bekommt sie plötzlich einen Brief von ihr. Sie wolle Monika noch einmal sehen, bevor sie sterbe. Die von Krankheit geplagte Gloria bittet die Schriftstellerin, etwas über sie zu verfassen: "Ja, Moni, schreib eine Seite über mich, denn wenn ich sterbe, ist dann noch etwas von mir da."
Es geht also um zwei Freundinnen, die sich im Laufe ihres Lebens aus den Augen verloren haben und im Alter wieder zueinanderfinden. Mit 150 Seiten ist das trotz der langen Freundschaft ein sehr kurzer Roman, stilgetreu für Helfer. Auch wenn man durch die lakonischen Erinnerungen fliegt, wirkt die Erzählung noch lange nach. Wie seine drei Vorgängerromane ist "Die Jungfrau" autobiographisch angelegt, und dass ländliche Vorarlberg, wo Monika Helfer mit ihrem Mann lebt, wird auch wieder zum Schauplatz. In diesem Roman spricht die österreichische Autorin von sich als Monika und erzählt über ihr Leben als Schriftstellerin und ihre Ehe mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, mit dem sie seit 1981 verheiratet ist. Trotz dieser autobiographischen Authentizität gibt Monika Helfer in einem Interview mit dem "Stern" aber an, dass nur dreißig Prozent Wahrheit in dem Buch steckten, siebzig Prozent habe sie erfunden: "Ich habe Gloria aus vielen Freundinnen zusammengesetzt. Sie sagt Sätze, die ich mir gemerkt habe."
Die beiden Freundinnen, beide inzwischen jenseits der siebzig, begegnen sich wieder und stellen fest, dass sich zwischen ihnen kaum etwas verändert hat. Dabei hätten ihre Wege nicht unterschiedlicher verlaufen können. Während Monika eine berühmte Autorin geworden ist und eine Familie gegründet hat, scheint sich Glorias vielversprechende Schauspielkarriere verfangen zu haben. Sie verharrt in einem einsamen Dasein im Haus ihrer verstorbenen Mutter. Die einst schillernde, exzentrische Gloria ist nicht mehr da.
Monika und Gloria verbindet eine intensive und doch zuweilen unbehagliche Beziehung. So entstand neben all der Bewunderung, die sie füreinander empfanden, in manchen Situationen ein Konkurrenzdenken, bei dem sich die beiden als junge Frauen miteinander verglichen. So bei einer Theateraufführung in der Schule, bei der Monika unbedingt die Rolle des Hamlet spielen wollte, um im Stück Gloria, die Ophelia darstellte, eines auswischen zu können. Auch bei der eigenen Hochzeit, so verrät die Ich-Erzählerin im Buch, empfand Monika so etwas wie Eifersucht: "Gloria war meine Trauzeugin. Ich fand, sie war schöner als ich." Gloria erging es aber nicht anders. Später, als Monika ihren Sohn zur Welt brachte, empfing sie eine Glückwunschkarte von ihrer Freundin, auf der stand: "Glückwunsch, Du hast gewonnen!"
Bei der Wiederbegegnung gesteht Gloria ihrer Freundin, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie mit einem Mann geschlafen habe. Die abenteuerlustige, schöne Gloria blieb bis zuletzt allein. Dabei spielten Männer durchaus eine Rolle in ihrem Leben. Sie begann mit ihrem Uniprofessor Andrea, der verheiratet war und Kinder hatte, eine Affäre. Verschiedene sexuelle Handlungen blieben dabei nicht aus, doch zum Geschlechtsverkehr kam es zwischen beiden nie - nicht zuletzt aufgrund der strengen katholischen Moralvorstellungen von Andrea.
Es wird klar: Der Begriff der "Jungfrau", der Enthaltsamkeit impliziert, trifft auf Gloria nicht zu; es stecke "viel Widersprüchliches im Begriff der Jungfrau", sagt Helfer in einem Interview. Von ihren Töchtern wisse sie, dass es dabei um viel mehr gehe als um die reine Tatsache, ob man mit einem Mann geschlafen habe. Mit dem Buch gibt sie ihnen recht: "Die Jungfrau", so steht dort zu lesen, sei ein "seltsamer, völlig altmodischer Begriff". ANNA-LOUISA SCHÖNFELD
Monika Helfer: "Die Jungfrau". Roman.
Hanser Verlag, München 2023. 150 S., geb.
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