Olivia Jones, klar, wer kennt die Dragqueen nicht? So habe auch ich, wenn ich den Namen höre, sofort ein Bild des schrillen, glitzernden Stars vor Augen. Auch wenn ich bisher kein solch großer Fan war, als dass ich all ihre Aktionen mitverfolgen hätte müssen, auch ihr Auftritt beim Dschungelcamp ist an mir vorbei gegangen, weil das einfach nicht mein TV- Format ist, hat diese Autobiografie sofort meine Neugier geweckt und nach der Lektüre bin ich tatsächlich schwer beeindruckt, wie viel in ihr steckt.
In ihr, oder doch ihm, denn Olivia Jones wurde 1969 im niedersächsischen Springe als Oliver Knöbel geboren und nimmt sich auch heute noch gerne Auszeiten, in denen sie, ich entscheide mich dafür, denn das verkörpert sie in meinen Augen mehr, unerkannt als Oliver durch Hamburgs Straßen spazieren kann. Das ist nur ein interessantes Detail.
Als Hörer erfährt man hier in thematisch gegliederten Kapiteln schonungslos offen und ehrlich unheimlich vieles über den Star, angefangen mit Olivias Kindheit und ihrem Aufwachsen, samt solchen kleinen Informationen darüber, welche Haustiere und welches Verhältnis die heutige Dragqueen als Kind zu ihnen hatte, über Dinge wie z.B. wie lange sie fürs Zurechtmachen braucht oder welche Demütigungen bis heute nachhallen und zu welchen politischen Überzeugungen diese führten, denn Zeit heilt zwar viele, aber längst nicht alle Wunden, bis hin zum Schilderungen des langen, steinigen Weges dahin, von der Transvestie leben zu können, der fast an der Privatinsolvenz vorbeischrammte oder auch ihren bisherigen Fernsehauftritten und Promifreunden. Ebenfalls wird die Welt, die sie sich auf St. Pauli geschaffen hat, vorgestellt, vielleicht dabei auch ein wenig Werbung für ihre Kieztouren gemacht. Ich zumindest habe mir fest vorgenommen, mir das bei meinem nächsten Urlaub in Hamburg auf keinen Fall entgehen zu lassen. Aktuell werden u.a. auch die Auswirkungen von Corona, oder auch Probleme auf dem Kiez angesprochen.
Gefesselt und interessiert hat mich zweifelsohne alles, aber eines meiner Lieblingskapitel war sicher, wie sie zur Dragqueen wird. Zwei Stunden fürs Schminken, was sie stets nur selbst macht, 200 € pro Monat an Ausgaben für die ganzen Produkte, die verschmiert werden, Tendenz steigend, denn sie hat sich vorgenommen gegen Zeichen des Älterwerdens einfach mehr zu kleistern, oder davon zu erfahren, dass sie die zwanzig Perücken aus ihrer Sammlung, die sie stets in Gebrauch hat, in der Küche lagert, weil dort sowieso nicht gekocht wird, hat mich staunen und oft auch schmunzeln lassen. Tief in Erinnerung geblieben, auch Tage nach dem Hören weil ich so geschockt war, ist mir z.B. auch der Abschnitt, der von ihren Schönheitskorrekturen erzählt und dabei besonders der Teil, der von dem neunmonatigen Leiden, das sie für 5,6 cm kürzere Beine in Kauf genommen und selbst danach nie bereut hat, berichtet.
Der plaudernde Erzählstil von Olivia Jones macht diese Autobiografie zum unterhaltsamen Vergnügen. Mit einer gehörigen Portion Selbstironie, hier und da sicher auch einem Lächeln, um die eine oder andere Wunde zu übertünchen, erzählt sie schonungslos offen und meinem Gefühl nach äußerst ehrlich von den Höhen und Tiefen in ihrem Leben. Man darf Olivia als jemanden kennenlernen, der sehr viel Wert auf das Wohlbefinden anderer, insbesondere derer, mit denen sie zusammenarbeitet, die sie zu ihrer Familie gemacht hat, legt und beim Hören hatte ich fast das Gefühl ein bisschen mit in diese Familie eintauchen zu dürfen. Ich bin mir vorgekommen, wie wenn mir ein guter Bekannter oder sogar Freund seine Geschichte erzählt. Mit ihrem realistischen Blick auf die Welt, ihren gesunden Einstellungen, ihrer hilfsbereiten Art und ihren Bemühungen um Toleranz könnte ich sie mir abseits des Lebens auf dem Kietz und der Hetze von Auftritt zu Auftritt sogar ganz gut als einen solchen vorstellen. Das Hörbuch hat mich völlig eingenommen und ich habe gefesselt und äußerst interessiert gelauscht und am Ende angekommen, kann ich nur sagen. Chapeau!, hinter dem Star steckt so richtig viel, was mir mächtig imponiert. Ganz oft hat mich diese Autobiografie emotional so richtig mitgenommen. So habe ich beim Hören nicht selten selbst fast einen Stich im Herzen verspürt, wenn ich z.B. von der einen oder andere Demütigung erfahren habe. Dass die Mama sie beim zur Schule fahren aus Scham immer ein paar Straßen weiter aussteigen hat lassen, ist nur ein trauriges Beispiel dafür, auch wenn Olivia Jones ihr hier keinen Vorwurf macht, sondern sogar klar herausstellt, dass die es natürlich im kleinen Heimatörtchen als alleinerziehende Mutter, der man dort die Schuld dafür gibt, dass ihr Sohn so schrill aus der Rolle fällt, auch nicht leicht hatte. Ganz schrecklich getroffen hat mich auch der Vater, der ein Milliönchen unterschlagen und die Familie dem Gerede ausgesetzt hat, ernsthaft fragt, ob das sein muss, dass Olivia ihre Passion so öffentlich lebt. Hoffen kann ich z.B. auch nur, dass es heute keinen von den konservativen Lehrern, die sie geschminkt und mit lackierten Nägeln für eine Gefahr für die Mitschüler hielten und keine Gelegenheit ausgelassen haben sie zu demütigen und bloßzustellen, mehr gibt. Gar nicht schrill und bunt kann daher ihr Einsatz für Zivilcourage, für Toleranz und für mehr Offenheit gegenüber Homo-und Transsexualität sein. Gerne wäre ich z.B. auch einmal bei einem ihrer Projekte in Schulen mit dabei. Unheimlich gut hat mir zudem gefallen, dass der Ton stets ein zuversichtlicher, mutmachender ist, egal von welcher schrecklichen und scheinbar ausweglosen Erfahrung sie berichtet. Als Hörer bekommt man so auf jeden Fall die Botschaft, es geht immer irgendwie weiter, was ja immer gut ist.
Gelesen wird die Hörbuchversion von Olivia Jones und der Drag-Family: Fanny Funtastic, Barbie Stupid, Veuve Noire und Magnif.ck. Grandios gut gefallen haben mir die Abschnitte, die Olivia Jones selbst liest, denn der Vortrag ist so mitreißend und lebendig, wie man den Star, der so für sich zu begeistern weiß, auch aus dem Fernsehen kennt. Die Tatsache, dass Abschnitte, ebenfalls aus Olivias Perspektive auch von anderen gelesen werden, war für mich ein wenig gewöhnungsbedürftig. Beim ersten Wechsel fragte ich mich noch überrascht, kommt jetzt der Bruder zu Wort, der seine Sicht der Dinge beisteuert, was jedoch nicht der Fall ist. Weder handelt es sich bei den Sprechern um blutsverwandte Familienmitglieder, noch wird aus einer anderen Perspektive berichtet, sondern sich einfach nur beim Vortrag abgewechselt. Ich kenne keinen aus der Drag-Family, kann also auch nicht zuordnen, wer was liest, aber eindeutig feststellen, dass nicht ein jeder gleich versiert ist. Einer steht Olivia nicht so sehr viel nach, aber an den Star selbst kommt natürlich keiner ran. Aber es muss ja auch nicht immer alles so perfekt sein und vielleicht passt ja ein Vortrag, bei dem auch mal ein Holperer und der eine oder andere Versprecher sein dürfen, auch ganz gut zum Konzept "Ungeschminkt".
Alles in allem ein für mich super interessantes Hörbuch, dem ich gefesselt gelauscht habe und das auf jeden Fall fünf Sterne verdient.