Besprechung vom 07.05.2019
Leben Sie lieber neben einem Dieb oder einem Sodomiten?
Viel Gefühl, wenig Vernunft: Philipp Hübl versucht zu erklären, wie gesellschaftliche Polarisierungen funktionieren
Würden Sie einem Psychologen Ihre Seele verkaufen? Für zwei Dollar? Scott Murphy von der Virginia University hat es ausprobiert: Nur dreiundzwanzig Prozent der Probanden unterzeichneten seinen "Vertrag" und steckten die zwei Dollar für eine sinnlose Unterschrift ein. Was hielt die anderen davon ab? Was regiert unsere Entscheidungen? Ein Bauchgefühl, um das bestenfalls im Nachhinein eine Rechtfertigung gestrickt wird, oder die Vernunft? Und was bedeutet das für unser Zusammenleben? Das sind Fragen, denen der Philosoph Philipp Hübl in seinem neuen Buch nachgeht.
Dabei geht es weniger, wie der Titel verspricht, um die aufgeregte als um die gespaltene Gesellschaft: Konservative gegen Progressive, Stadt gegen Land, Jung gegen Alt, Kollektivisten gegen Individualisten. Hübl setzt auf die Moralpsychologie: Sie soll helfen zu verstehen, wie diese Polarisierung zustande kommt.
Moralpsychologie untersucht, wie Menschen tatsächlich urteilen, nicht, wie die philosophische Ethik, wie sie urteilen sollten. Dazu verwendet sie mit Vorliebe fiktive Geschichten, zu denen die Versuchspersonen ihre Meinung äußern oder eine Lösung vorschlagen sollen, wobei je nach Versuchsaufbau ihre Reaktionszeiten, die Veränderung des Hautwiderstandes oder die Schweißbildung gemessen wird.
Hübl erzählt eine ganze Reihe dieser Studien nach, der Leser kann selbst überlegen, wie er antworten würde: Darf man mit der Landesflagge die Toilette putzen? Würden Sie lieber neben einem Ladendieb wohnen oder neben jemanden, von dem bekannt ist, dass er Sex mit Tieren hat? Ist einvernehmlicher Sex zwischen erwachsenen unfruchtbaren Geschwistern verwerflich? Und auch die "Fruchtfliege der Psychologen" darf nicht fehlen: Darf man den dicken Mann vor den Zug schubsen, wenn man damit fünf Menschen retten könnte?
Im ersten Teil des Buches zeigt Hübl, dass die Regelmäßigkeiten, die die Forscher aus diesen Studien extrahieren, nicht gerade geeignet sind, ein Selbstbild als rationales Individuum aufrechtzuhalten, das nach wohlüberlegten Prinzipien handelt. Einer amerikanischen Langzeitstudie zufolge kann man etwa anhand der Charaktermerkmale, die Erzieher bei Vierjährigen feststellen, recht zuverlässig vorhersagen, ob sie später eher republikanisch oder demokratisch wählen werden und welche Einstellungen sie zu Schwangerschaftsabbrüchen oder Homosexualität haben. Ebenso korreliert die Ekelneigung einer Person mit ihren politischen Präferenzen und Einstellungen gegenüber Fremden.
Unsere Moral, so schließt Hübl daraus, verdankt sich eben nicht Prinzipien, sondern Emotionen wie Angst, Zorn, Ekel, Scham oder Schuld. Und sie ist biologisch grundiert, will heißen: anfällig für Angst vor Unbekannten, auf Hierarchien und Anerkennung aus. Und sie wird geprägt von der Welt, in der wir leben. Chinesen, die Reis anbauen, sind solchen Studien zufolge eher gesellschaftsorientiert und konservativ, solche, die Weizen anbauen, eher progressiv und individualistisch. Die angebotene Erklärung lautet: Reisanbau ist ein gemeinschaftliches Unterfangen, die Bewässerung muss geregelt werden, das Ganze kann nur gelingen, wenn alle an einem Strang ziehen. Beim Anbau von Weizen kann es dem einen Bauer hingegen ziemlich egal sein, was der andere auf seinem Acker tut.
Neben dieser "Reistheorie" gibt es auch eine "Parasitentheorie", der zufolge Menschen in Gebieten mit hoher Parasitenbelastung eher zum Kollektivismus neigen, Traditionen betonen, Autorität, schätzen, für Vetternwirtschaft und Fremdenfeindlichkeit anfällig sind.
Mit der Rationalität der Moral ist es demnach also nicht so weit her. Aber warum polarisiert sich dann heute die Welt immer stärker? Weil der Wandel immer schneller voranschreitet, meint Hübl in den Teilen zwei und drei, die Politik und Gesellschaft gewidmet sind. Die jungen, progressiven Stadtbewohner, so legt er sich die Sache zurecht, begrüßen diesen Wandel, sie erwarten, dass es in der Zukunft besser wird. Die konservativen Landbewohner hingegen sähen die Globalisierung als Gefahr, verklärten eine vermeintlich bessere Vergangenheit und reagierten mit Abwehr, im Extrem mit Nationalismus und Xenophobie auf die Veränderungen.
Doch trotz solcher Umweltbestimmtheit und der gleichzeitig konstatierten Neigung zu stammesartigen Gebilden, über die Identitäten und Loyalitäten organisiert werden, hat Hübl auch naheliegende aufmunternde Worte parat. Die Moral habe zwar eine biologische Basis, sei aber ebenso eine Frage der Entscheidung. Wir können lernen, unsere Einseitigkeiten und Vorurteile wahrzunehmen, sie zu überdenken und zu revidieren. Wir sind in der Lage, eine gefühlte Terrorangst mit dem Blick auf die Statistik auf ein realistisches Maß zurückzudrängen.
Fremdenfeindlichkeit und Rechtspopulismus seien ein letztes Aufbäumen der alten Welt gegen die progressive Revolution, die die Welt freier und individueller machen werde. Das zeigten auch jene siebzehn Prozent der Probanden, die ihre Seele erst nicht verkaufen wollten, es nach einer vernünftigen Diskussion dann aber doch taten.
Also wird doch alles gut? Um solche Schlüsse aus den präsentierten Befunden zu ziehen, dazu ist das Bild, das Hübl von Menschen zeichnet, zu schematisch. Konservative Städter und progressive Landmenschen sind in seinem Modell schwer zu erklären. Wenn unsicherer werdende Lebensverhältnisse die Rückkehr tribalistischen Denkens befördern, ist zudem kaum zu sehen, warum dieses gerade jetzt zurückgehen sollte, wo viele Menschen sich abgehängt fühlen und der Klimawandel schwierige Konstellationen noch verschärft. Auch den Despoten Afrikas die dort herrschenden Infektionskrankheiten in die Schuhe zu schieben, wirkt unterkomplex.
Richtig ist zweifellos: Der Mensch ist nicht durch und durch rational und es ist wichtig, unser moralisch relevantes Handeln und die für es aufgewendeten Maximen nüchtern zu untersuchen. Wie viel es da zu berücksichtigen gilt, präsentiert Hübl auf beeindruckende Weise. Natürlich sollten wir nachdenken, bevor wir unsere Urteile in die Welt posaunen. Natürlich sollten wir mehr Vernunft wagen, lernen, die guten von den üblen Emotionen zu unterscheiden und mehr von Angesicht zu Angesicht streiten, als anonym im Netz herumzumotzen. Das allein wird aber kaum ausreichen. Wenn die Umwelt die Moral des Menschen so stark prägt, sollte uns vielmehr daran gelegen sein, sie so einzurichten, dass sich möglichst wenige bedroht und gedemütigt fühlen müssen.
MANUELA LENZEN
Philipp Hübl: "Die aufgeregte Gesellschaft". Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken.
C. Bertelsmann Verlag, München 2019. 429 S., geb.
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