Besprechung vom 26.05.2019
Für die Tasche Man kann ja heute regelrecht wehmütig werden, wenn man das Wort "Couchsurfing" hört. Ist diese romantische Idee, auf Reisen bei anderen Menschen zu wohnen, nicht längst von Giganten wie Airbnb gnadenlos kommerzialisiert worden? Offenbar nicht ganz, und vor allem: nicht überall. Der Reise-Autor Stephan Orth hat sich einen Namen dafür gemacht, das alternative Reisen an den Orten zu studieren, die dem westlichen Beobachter sonst als unheimlich bis problematisch erscheinen. Seine letzten Bücher drehten sich um Iran und Russland. Nun erscheint "Couchsurfing in China" - und wer ein Sachbuch oder einen Reiseführer erwartet, wird auf Seite eins enttäuscht. Da geht es erst einmal um ein paar Szenen aus einem Videospiel. Und direkt danach sitzen wir mit Orth in der WG-Küche, und ein Freund sagt: "Jede Frau würde dich wollen!" Es ist Yang, und seine fixe Idee ist: Orth soll sein Gesicht für Werbung auf Wurstpackungen in China zur Verfügung stellen. Wir befinden uns hier also mitten in einem sehr subjektiven Bericht, einer Art Blog auf Papier. Und dass es dabei auch um große Fragen geht, wird erst nach und nach klar. Etwa: Wie reist man überhaupt individuell durch China? Das Land will das möglichst verhindern. Entsprechend kafkaesk wird ein Besuch im Konsulat, doch dann geht es schon los.
Der Bericht ist eine Rundreise, von Südchina erst ins Landesinnere, dann zur Grenze zu Nordkorea, in die Hauptstadt, nach Schanghai und schließlich in den Westen. Immer von einer Empfehlung zur nächsten. So lernt der Reisende Bo kennen oder Nora oder Yun, von dessen Restaurant aus man nach Nordkorea blicken kann. Immer chattet man erst, sieht sich dann, freundet sich dann an. Das alles strahlt zunächst eine herrliche Leichtigkeit aus. Und dann sagt die Künstlerin aus Peking, die Polizei habe ihr Atelier zertrümmert. Und die Frau vom Fernsehen will, dass man das Wort Couchsurfing nicht erwähnt. Wegen der Regierung. Und dann gibt es diese drahtige ältere Yogalehrerin, die Wutausbrüche bekommt, wenn man ihr Land kritisiert.
Das alles wirkt sehr verwirrend und ist auf gar keinen Fall eine Empfehlung, das größte Land der Welt auch nur zu betreten. Aber es ist aufregend. Bis ganz zum Schluss, als zwei Männer mit Maschinengewehren den Autor zwingen, sein eben geschossenes Foto der Moschee von Urumtschi wieder zu löschen. Im autonomen uigurischen Gebiet hört diese Reise auf. Kleine Elemente zwischen den Kapiteln machen das Buch äußert kurzweilig, etwa das Ranking der zehn Millionenstädte, die keiner kennt, oder die kuriosesten Details der Zensur. Bilder von Pu dem Bären sind verboten, seit im Internet Witze kursierten, der Generalsekretär der KP Chinas, Xi Jinping, sehe so aus wie die Kinderbuchfigur.
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Stephan Orth: "Couchsurfing in China. Durch die Wohnzimmer der neuen Supermacht". Piper, 256 Seiten
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