Besprechung vom 13.01.2019
Der Nachleser
Ein antifaschistischer Schweizer trifft eine naziliebende Jüdin: So geht die falsche Lovestory in Takis Würgers neuem Roman "Stella"
Ist es nicht genial? Ein junger Deutscher schreibt ein Buch über das alte Deutschland, die Nazizeit, schreibt über Schuld. Gab es sie eigentlich? Überraschung, der junge Deutsche sagt: Klar, gab es sie. Doch seine besonders schlaue Botschaft geht so: Die Schuld, sie war auch jüdisch.
Aber worum geht es in diesem Buch überhaupt? Um Stella. So heißt die Heldin im zweiten Roman von Takis Würger, und so heißt auch der Roman. Die literarische Stella ähnelt mit Absicht einer realen. Sie hieß Stella Goldschlag und war eine Jüdin, die im Auftrag der Deutschen Juden verraten hat und verhaftet. Das war im Berlin der vierziger Jahre. Tausende Juden lebten mit falschen Papieren untergetaucht in der Stadt, auch Stella und ihre Eltern. Doch die Nazis suchten gründlich nach ihnen. Als die Gestapo die Goldschlags verhaftete, wurde Stella gefoltert, erpresst. Die Mörder machten sie zur Mittäterin. Sie jagte Menschen, um ihre Eltern vor dem Zug nach Auschwitz zu retten. Im Februar 1944 wurden sie trotzdem deportiert. Stella kollaborierte danach noch immer mit der Gestapo. Warum? Hatte sie eine Wahl? Wie kann man ihre Geschichte erzählen? Darf man das überhaupt? Ja, klar. Peter Wyden, er war ein deutsch-amerikanischer Journalist, hat 1992 ein Memoir über Stella geschrieben - vor seiner Flucht aus Deutschland ging er mit ihr auf eine jüdische Schule. Und darf man von ihr erzählen, wenn man kein Jude ist? Ja, klar. Steven Soderbergh hat das 2006 in "The Good German" gemacht, Cate Blanchet spielte seine Stella-Kopie.
Und Takis Würger? Er hat eine gute Idee: Ein Schweizer, Friedrich, reist im Januar 1942 nach Deutschland, um sich das Land im Krieg anzuschauen, und trifft dort Stella, die sich als Kristin vorstellt. Friedrich erzählt in der ersten Person, zuerst von seiner hässlichen Kindheit, die Mutter ist Schlägerin und Antisemitin. Doch man fühlt wenig, während man liest. Das liegt vor allem an der Sprache, die Würger seinem Helden gibt und den anderen Figuren. Immer wieder reden sie wie Charaktere aus diesen Heftchen, die am Kiosk ganz unten ausliegen und von Liebe im Sonnenuntergang und Herzschmerz erzählen. Oder sie sagen gleich langweilige Pseudoklugheiten auf. Wie Friedrichs Vater, er erklärt ernsthaft: "Ich glaube, die Wahrheit ist nirgendwo so sehr in Gefahr wie im Krieg." Er ist es auch, der am Anfang zum Sohn sagt, dass es moralische Schuld gar nicht gibt, doch da geht es noch nicht um die Nazis.
Und Friedrich? Was sagt er? Wie spricht er? Oft so: "Schweigen wurde meine Art zu weinen." Oder so: "Danke, dass du mir gezeigt hast, was Liebe ist." Oder so: "Wir machten uns schuldig, jeder auf seine Art." Den Satz denkt Friedrich schon im Nazideutschland, doch zur Schuldfrage - dieser kleinen und großen deutschen, aber auch offenbar jüdischen Angelegenheit - später. Erst mal zu Friedrich. Nachdem er sich in Stella als Kristin verliebt hat, verschwindet sie für acht Tage. Mit zerschlagenem Gesicht kommt sie wieder, erzählt vom Gestapokeller, von Folter, von ihren jüdischen Eltern, die jetzt Geiseln sind. Friedrich bleibt bei ihr, denn er ist naiv und ein Antifaschist. Deshalb ist ihm, wenn irgendjemand etwas Nationalsozialistisch-Übles macht oder sagt, wortwörtlich übel: Er übergibt sich. Weniger wortwörtlich ist Friedrich, wenn er von Stella erzählt. Trotzdem sind seine gespaltenen Gefühle zu ihr eindeutig, sind "kalt" oder "warm". Als Opfer liebt er sie, als Täterin nicht. "Ihre Lippen waren kalt", denkt Friedrich zum Beispiel, als er begreift, dass Stella jetzt einen Juden jagt. Und später, als sie ihm das jiddische Wort "Neschume" erklärt, das Seele bedeutet, mag er sie wieder: "Sie war noch einmal warm und weich."
Am Anfang aber - vor der Folter, vor Stellas Mittäterschaft - steht eine unschuldige Liebesgeschichte: Stella schreibt Friedrich Zettel mit Liebessätzen, versteckt sie in seiner Kleidung, sie spazieren durchs dunkle Berlin, küssen sich auf einsamen Brücken. Weiche, schwere Romantik: "Ich betrachtete ihre Grübchen. Ich wusste, was sie dachte."
Zwischen den Zuckerwatteszenen und -sätzen stehen aber auch andere Passagen, die weniger kleben, denn "Stella" ist ein Montageroman. Jedes neue Kapitel beginnt mit einem Monat und einer Jahreszahl, und es wird schnell erzählt, was Goebbels da denkt, Hitler macht oder wie es Heydrichs Gesundheit so geht. Kurz denkt man deshalb an "1913", Florian Illies' literarisches Geschichtspanorama, vergisst das aber sofort, denn es ist falsch, Würger arrangiert und inszeniert nichts wie Illies, er spult einfach Historisches ohne Pointe, ohne Zusammenhang ab.
Wozu diese Nazigeschichte-für-Dummies? Keine Ahnung. Klar dagegen ist etwas anderes, das im Buch auch noch verbaut ist, immer wieder und in Kursiv: Zeugenaussagen gegen Stella Goldschlag, die echte, reale. 1946 gab es einen Prozess gegen sie, das Urteil: zehn Jahre Lager. Man erfährt Orte, an denen Stella gewartet und Menschen gefangen hat und die Namen der Opfer. Es ist echtes Archivmaterial und interessant. Vielleicht weil dieser Nach-wahren-Begebenheiten-Moment immer okay funktioniert. Er ist seit Jahren in Mode, verkauft sich. Und es kommt einem vor, als ob dieses Buch das alles unbedingt auch will: in Mode sein, funktionieren, sich verkaufen. Es ist eine Mischung aus allem, was geht; etwas Illies, etwas Realness und etwas Tarantino kommt auch noch vor. Den Bösewicht in "Stella" nennt man den "Gärtner", und als er seinen Monolog über Juden aufsagt, hört er sich so ingloriousbasterdhaft an, dass im Kopf gleich Christoph Walz ist als Oberst Landa, Tarantinos Oberverbrecher. Und das, obwohl im Kopf vorher schon "Babylon Berlin" laufen musste, die Serie selbstverständlich. In "Stella" gibt es zwar kein "Moka Efti", aber einen "Melodie Club". Und die Szenen dort wirken vollkommen gestellt, wie in der Serie auch. Man merkt, dass alles Kulisse ist, und will dennoch den falschen und wilden Nächten leicht angewidert zusehen; der Kellnerin, die Kokain in Metalldöschen serviert, den Trinkern, den Tänzern, sie tanzen den Charleston, natürlich.
Auch Stella tanzt. Aber lieber singt sie, will Sängerin werden. Ihr Vater ist Komponist. Sie ist gebildet, liest Erich Maria Remarque und Benjamin Constant, den französischen Staatstheoretiker. Und trotzdem ist sie primitiv. Gießt Kaffee ins Orangensaftglas, isst auf einer Gala Eier mit Händen, trinkt Sekt aus der Flasche, klatscht zum Horst-Wessel-Lied mit oder lässt sich in einer Kneipe ganz gerne von einem besoffenen Nazi anfassen. Es ist so abstoßend wie unglaubhaft und falsch. Warum, bitte, benimmt sich eine junge gebildete Frau wie ein alter russischer Bauer? Es liegt daran, dass Takis Würger nicht nur trivial schreibt, sondern auch ein triviales Bild von Juden hat. Denn es sind Oberklischees, die er seiner literarischen Stella zuordnet, sie so unglaubwürdig und flach macht: die Primitivität der Verbrecherin, die Bildung der Jüdin.
Und jetzt muss man sich Stella auch noch als schöne Jüdin ansehen. Wieder ein altes Klischee, so wie der hässliche Jude. In der Literatur war sie immer da, die Außenseiterin, über die man alles schreiben konnte, was man über Juden so dachte: Gutes. Schlechtes. Philosemitisches. Und Antisemitisches. Denn sie galt oft, weil sexuell anziehend, als zersetzend, zerstörend. "Es geht von ihnen ein Hauch von Massaker und Vergewaltigung aus", schrieb Sartre über die schöne Jüdin und die "besondere sexuelle Bedeutung" der Worte. Im Buch von Takis Würger ist Stella zwar auch eine Sexphantasie, und das doppelt: Sex mit ihr bedeutet für Friedrich Sex mit einem Opfer und Sex mit einem Täter. Doch ist sie keine Zersetzerin, sie zerstört nicht das Leben des Helden. Das ist die gute Nachricht.
Jetzt zu der schlechten: Sie steht im Showdown. Auf einer großen Naziparty hat Stella einen kleinen Auftritt, darf singen. Es ist Dezember 1942, ihre Eltern sind noch in Berlin, sind noch Geiseln. Das Publikum trägt Uniform und Hakenkreuzbinden. Stella singt. Danach Applaus und der Satz: "Stella war in diesem Moment dort, wo sie sein wollte." Warum es unter Nazis am schönsten ist, erfährt man nicht mehr. Stella singt "Stardust", und Friedrich fühlt, dass es vorbei ist, denn "Love is now the stardust of yesterday". Er verlässt die Party, und Stella, steigt in einen Nachtzug ins Ausland. Während der Fahrt findet Friedrich in seinem Smoking einen Zettel von ihr. In diesem Moment weiß er es: "Vater hatte Unrecht. Es gibt Schuld."
Und als Leser weiß man dann nicht mehr weiter. Dass es Schuld gibt, die Friedrich zuerst Ferdinand-von-Schirach-mäßig bezweifelt, erkennt er zum Schluss ausgerechnet durch eine Jüdin, durch die jüdische Menschenjägerin, Verräterin, Lügnerin Stella. Dass Nazis sie zur Verbrecherin machten, dass also die Schuld deutsch ist, nicht jüdisch, so explizit sagt Friedrich und schreibt Takis Würger es nicht. Und ja, das ist die kleine, große Opfer-Täter-Gleichmacherei. Ja, sie macht das echte Leben von denen, die keine Lust mehr auf Vergangenheitsbewältigung haben, viel leichter. Und ja, seit Jahren ist sie in Mode. Doch warum steht sie auf einmal in diesem Buch? Liest der deutsche Leser von heute lieber Bücher über schlechte Juden als über gute? Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch nur eine böse, bösartige Unterstellung. Denn Kunst muss nicht moralisch sein, nicht politisch korrekt. Aber sie muss immer gut sein, das heißt nie erwartbar, nie flach. Dann schafft sie es, sogar das Abstoßendste zu erzählen, zu zeigen, ohne selbst abstoßend zu sein.
Und es gibt Literatur, die mit merkwürdigen, dubiosen, aufregenden Motiven der Schuld und Schuldlosigkeit das Ungeheuerlichste sagt. Imre Kertész zum Beispiel lässt im "Roman eines Schicksallosen" seinen jüdischen Helden Verständnis für Auschwitz-Wachleute haben und zerstört so die verlogene Aura um das Wort Auschwitz endgültig.
Aber auch die leichteren, falschen Vergangenheitsträumereien, mit denen die deutsche Literatur vollgestellt ist, können funktionieren, literarisch interessant sein, so wie "Der Vorleser" von Bernhard Schlink. Klar, kein großes und tiefes Buch. Doch die Lovestory um die Auschwitz-Aufseherin, die angeblich nicht so superschuldig war wie die anderen, ist handwerklich gut, teuflisch-ambivalent, so dass sie einen kurz seltsamerweise berührt, was die Lovestory von Friedrich und Stella nie kann.
Warum? Das Problem von "Stella" ist, dass dieser Roman zuerst literarisch versagt und dadurch dann erst moralisch. Stellas sinnlose, deprimierende, düstere Schuld bleibt Druckerschwärze auf weißem Papier. Ihre wahre Geschichte ist zu groß für den Autor. Ihm fehlt die Vorstellung, Dinge zu sehen, die mehr sind als kalt und als warm, als schöne Täterin und als böse Geliebte. Und die sadistische Nazi-Helferin Stella Goldschlag wird deshalb doch Opfer, im Jetzt denunziert, verraten von schriftstellerischer Unfähigkeit.
ANNA PRIZKAU.
Takis Würger: "Stella". Hanser, 224 Seiten
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