Besprechung vom 13.02.2022
Ungleiche Sicht
In ihrem neuen Roman erzählt Fatma Aydemir von einer Familie, gefangen zwischen der Türkei und einem Deutschland, das sie nicht haben will: "Dschinns"
Dschinns" heißt der neue Roman von Fatma Aydemir: Vor fünf Jahren hatte die Berliner Journalistin mit ihrem Debüt "Ellbogen" ein Buch geschrieben, das zentral war für die immer nur noch stärker werdende deutschsprachige Literatur über migrantische Erfahrungswelten in der Bundesrepublik von heute. 2019 gab Aydemir dann einen Sammelband heraus, der viele der dazugehörigen literarischen Stimmen vereinte, Deniz Utlu, Sharon Dodua Otoo, Mithu Sanyal. "Eure Heimat ist unser Alptraum" hatte einen Titel wie eiskaltes Wasser ins Gesicht oder wie ein T-Shirt-Logo. Einen Titel, der zugleich die verbindende Erfahrung im Leben der vielen verschiedenen Minderheiten mit den Mehrheitsbewohnern der Bundesrepublik auf den Punkt brachte: Ort und Stelle sind gleich, aber die Sicht ist unterschiedlich. "Für uns", lautete die Widmung dieses Sammelbands, den Aydemir gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah ("Ministerium der Träume") herausgegeben hatte, und dieses "uns" war fast noch prägnanter als der Titel des Buchs. Denn es markierte zugleich ein "ihr". Und damit den ungelösten Konflikt der sogenannten bundesrepublikanischen Integrationspolitik: Solange ihr nicht erkennt, dass wir es anders sehen, weil wir nicht so auf dieses Land sehen können wie ihr, weil ihr uns anders seht, wird das schwer mit euch und uns.
Es ist kompliziert, weil "wir" und "ihr" nie homogen sind. Es ist aber damit auch ein Fall für die Literatur, die abweichenden Perspektiven und deren Vergröberungen und Verwischungen wahrnehmbar machen kann, gleicher Ort, gleiche Stelle, unterschiedliche Sicht der Dinge.
Und da, wo Fatma Aydemir in "Ellbogen" noch mit der einen Stimme der jungen Hazal die Geschichte einer Siebzehnjährigen erzählte, die ihren Ort sucht in ihrer Familie, ihrem Viertel, ihrem Berlin, ihrem Istanbul, ihrem Leben, da beschreibt "Dschinns" jetzt die Familie Yilmaz, aber mit sechs Stimmen: der des Vaters, der Mutter und denen der vier Kinder.
"Dschinns" ist ein klassischer Familienroman, was die Dynamik zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Eltern und zwischen den Kindern angeht. Klassisch in dem Sinne, dass man Leitmotive nicht nur aus dem echten Leben, sondern auch dem oft schon erzählten Leben wiedererkennt, weil es anthropologische Konstanten sind: Der älteste Sohn soll an die Stelle des Vaters treten, will das aber nicht, da er unter der Rolle des Vaters immer gelitten hat. Die älteste Tochter kämpft um den Respekt der Mutter und damit, dass Liebe und Respekt nicht das Gleiche sein müssen.
Aber es schwankt eben auch die Erde unter der Familie Yilmaz, einer Familie wie so viele, die vor sechzig Jahren nach Deutschland gekommen sind, die keine Heimat hat, nur noch den Transit zwischen festen Adressen, die trotzdem keinen Halt geben: Die Eltern, Hüseyin und Emine, wandern 1979 aus ihrem türkischen Bergdorf nach Deutschland aus. Sie lassen ihre älteste Tochter Sevda noch bei den Großeltern, nehmen nur die jüngeren Kinder Hakan und Peri mit, holen Sevda erst zwei Jahre später zu sich. Nach Rheinstadt, so nennt Fatma Aydemir, die 1986 in Karlsruhe geboren wurde, die idealtypische westdeutsche Stadt. Hier arbeitet Hüseyin in der Fabrik, hier bringt Emine noch einen weiteren Sohn auf die Welt, Ümit.
Alle vier Kinder werden ihren Blick auf die Geschichte dieser Familie in eigenen Kapiteln schildern, genau wie Emine, wie Hüseyin, sechs verschiedene Stimmen, die Fatma Aydemir zu Wort kommen lässt, indem sie den Ton immer neu der Sicht auf die Dinge anpasst.
Aber dennoch ist keiner und keine der sechs das Ich in dieser Geschichte, also: Es gibt nicht den einen Icherzähler, es gibt nicht die eine Icherzählerin, wie es sie noch in "Ellbogen" gegeben hat, einem Roman, deren Plot die junge Hazal erzählte, und zwar im Popliteratur-Präsens von Sätzen wie "Ich sitze auf den Treppenstufen vor Mehmets Hauseingang und beobachte eine Babystraßenkatze" oder "An der Ecke zur Müllerstraße nimmt mich Ebru in den Arm und flüstert mir ins Ohr, ich soll auf Gül aufpassen". Dieser Hier-jetzt-und-sofort-Sound von "Ellbogen" passte zur Geschichte einer überlasteten, jungen Frau, die nach dem Sinn in ihren Fehlern und Wünschen sucht, nach Gerechtigkeit und Feier und Frieden.
Mit ihrem zweiten Roman geht Fatma Aydemir jetzt stilistisch hinaus über den Sound des ersten, und das gelingt ihr, wenn auch nicht gleichmäßig. Es gelingt ihr, wenn sie aus der Innensicht des jüngsten, scheuen Sohns erzählt, Ümit, der Jungs liebt, vielleicht. Oder wenn sie die Perspektive der lässigen, trotzigen Peri einnimmt, die zum Studium nach Frankfurt zieht und versucht, ihre Mutter von Judith Butlers Gendertheorien zu überzeugen. Oder wenn es sich um die Emanzipation der ältesten Tochter Sevda dreht, die nie richtig zur Schule gehen durfte, sich dann aber buchstäblich selbständig macht mit einem eigenen Restaurant. Ihren Mann verlässt, weil der lieber saufen geht, statt auf die Kinder aufzupassen. Und dann für den Rest des Lebens mit dieser Entscheidung hadert, die auch eine Entscheidung gegen die Werte der Eltern ist. Ümit, Sevda, Peri liegen Aydemir aber spürbar näher als das Männermelodram Hakans, der, vollgetankt mit Red Bull, dreißig Stunden nonstop im Auto von Rheinstadt nach Istanbul rast, um rechtzeitig zur Beerdigung des Vaters anzukommen. Hakan, der Trickser, der Drifter.
Hier, in Istanbul, es ist das Jahr 1999, beginnt und endet der Roman, eingefasst ist er in das erste und letzte Kapitel, in denen die Perspektive abermals wechselt und der Roman die Eltern direkt anspricht, duzt: "Oh, Emine. Deine Tochter hat dir das Herz gebrochen, nicht wahr? Oh, Emine. Jedes ihrer Worte hat dir einen Stich versetzt, wie tausend kleine Obstmesser, die nicht scharf genug sind, um dich umzubringen, aber die umso mehr schmerzen, weil auf jeden Stich ein neuer folgt, weil dich nichts vom Schmerz erlösen wird. Was willst du bloß tun, Emine? Du kannst nichts tun, du musst mit dieser Wahrheit leben. Sevda hat recht."
Und wer da spricht, spricht auch am Anfang des Romans zum sterbenden Vater, der in der gerade erst gekauften Istanbuler Wohnung zusammenbricht, Herzinfarkt im Altersruhesitz, aber aus dem Ruhestand wird nichts, das war es jetzt für Hüseyin, "du musst dich nicht fürchten, Hüseyin, dieser Schatten, das bin nur ich. Ich verspreche dir, ich werde hierbleiben, in diesem Haus, in deiner Wohnung, und ich werde über deine Familie wachen, wenn sie hier eintrifft, ich gebe dir mein Wort, Hüseyin, ich verspreche es dir, für dich aber ist es nun Zeit zu gehen."
Es gibt also doch einen Icherzähler in "Dschinn", es könnte sein, dass hier einer der Geister zu Wort kommt, die Aydemirs Roman seinen Titel gegeben haben, ein Dschinn, der über das Leben wacht und Glück und Unglück stiftet, ungreifbar, rätselhaft wie Schicksal, Zufall, Fügung: Dass dieses "Du" und "Ich" auftauchen, ist aber auch der interessanteste der Kunstgriffe, die Fatma Aydemir in diesem Roman probiert, denn er erzeugt eine erzählerische Perspektive auf die Eltern, die ihre eigenen Kinder in ihren Affekten nicht selbst einnehmen können. Einen Ton, der wie von selbst verständnisvoll, aber trotzdem schonungslos ist, eine intime Empathie für zwei Menschen, die Armut und Tradition, Angst und Perspektivlosigkeit zu Entscheidungen getrieben haben, die sie nicht treffen wollten - warum durfte Sevda nicht zur Schule gehen, warum habt ihr sie nicht unterstützt, als sie ihren Mann verlassen hat? Passivität ist ein großes Motiv in diesem Roman, Schicksalsergebenheit, die Duldungsstarre, in die einen die Tradition zwingt, bis man es nicht mehr aushält. Oder nein, man hält es aus: Du hältst es so lange aus, bis dein Herz es nicht mehr schafft.
"Dschinn" ist ein deutscher Familienroman, der drei migrantische Generationen umfasst: Die Elterngeneration, die von der Türkei nach Deutschland ging. Die Kindergeneration, die ungefragt mitmusste oder schon in Deutschland geboren wurde. Und die Enkelgeneration, die der beiden Kinder von Sevda, aber sie sind noch zu klein, um sich hier zu Wort zu melden: Denn Aydemirs Roman spielt vor allem in den Neunzigerjahren. Und damit in der Zeit der rassistischen Morde und Brandanschläge von Rostock, Mölln, Solingen, Hoyerswerda, der aufgeweichten Asylgesetzgebung, der Lichterketten. Und deshalb sind Rheinstadt und das genauso erfundene, norddeutsche Salzhagen, wo Sevdan mit ihrem Mann und den beiden Kindern lebt, repräsentative Orte eines deutschen Alltagsrassismus.
Der Roman erzählt die Geschichte dieser Jahre jetzt also von innen, aus den Häusern migrantischer Familien, die deren deutsche Nachbarn angezündet haben. Auch die Dachwohnung von Sevdas Familie brennt ab, die Kinder überleben unverletzt, und selbst wenn der Roman offenlässt, ob es ein Anschlag war, der Verdacht ist zu eindeutig, die Indizien sind da, die Mobstimmung liegt über Salzhagen wie Rheinstadt und dem ganzen Land: "Das Dach über ihrem Kopf hatte in Flammen aufgehen müssen, bis sie endlich verstand", sagt Sevda zu sich selbst. "Dass man sie hier nicht haben wollte."
Das sind die großen, politischen Perspektiven dieses Romans. Die kleinen zeigen sich in der Genauigkeit, in der Fatma Aydemir Gesten beschreiben kann, das war auch schon in "Ellbogen" so, wie streng ein Gesicht beim Kiffen aussieht, wie sich jemand angewidert mit dem Handrücken über das Gesicht streicht. "Dschinn" ist aber auch ein Familienroman, der in klassischer Weise mit Geheimnissen arbeitet, mit unausgesprochenen Wahrheiten. Da gibt es mehr, als sich offenbart. Und deswegen kann man diesen Roman kaum weglegen.
TOBIAS RÜTHER
Fatma Aydemir, "Dschinns". Hanser, 368 Seiten
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