Besprechung vom 23.08.2022
Auch Staatskunst kommt von Können
Hilfe zur Selbsthilfe - Henry Kissingers Lektionen für das 21. Jahrhundert
Kann man "Staatskunst" lernen? Falls ja, wo und bei wem? Und was ist das über-haupt - "Staatskunst"? Henry Kissinger, dessen eigene "Staatskunst" von den einen vergöttert und von den anderen verteufelt wird, hat sechs Protagonisten als Lehrer ausgewählt: Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, Richard Nixon und Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher. Die Prüfsteine politischer Führung, an denen Kissinger seine Protagonisten misst: Analysefähigkeit, Strategie, Mut und Charakter.
In Zeiten eines erneuten großen Krieges in Europa erscheint es für die gegenwärtige Lage besonders lehrreich, was Kissinger in Fragen von Krieg und Frieden von seinen Protagonisten berichtet. Hierbei ist zu unterscheiden, wie sich diejenigen verhielten, deren eigenes Land militärisch angegriffen wurde, und wie diejenigen reagierten, deren Verbündete von außen attackiert wurden. Charles de Gaulle und Margaret Thatcher fallen vor allem in die erste Kategorie, Richard Nixon in die zweite.
Nach der französischen Niederlage 1940 akzeptierte Großbritannien die Überzeugung von der nationalen Würde Frankreichs, für die General de Gaulle stand. Kissinger, dessen amerikanische Heimat heute das "Leih- und Pachtgesetz zur Verteidigung der Demokratie in der Ukraine" anwendet, erinnert daran, dass bereits de Gaulle darauf bestand, dass Großbritannien die Freien Franzosen zwar mit Ressourcen und Geld versorgen würde, diese aber als zurückzuzahlendes Darlehen und nicht als Geschenke gewährt werden sollten.
Kissinger beschreibt den General als den einzigen unter seinen französischen Militärkollegen, der die Lage vor der deutschen Invasion richtig eingeschätzt habe. Seine Empfehlung: eine auf offensiver Panzerkriegführung beruhende Strategie anstatt der Verteidigungspolitik der vermeintlich uneinnehmbaren Maginot-Linie. Wer diese Seiten bei Kissinger liest, dürfte heute unweigerlich an die anfänglichen und teilweise immer noch vorherrschenden Fehleinschätzungen im Westen zum Abwehrkampf der Ukraine gegen Russland denken. Bereits in seinem Buch "Vers l'Armée de Métier" (deutscher Titel: "Frankreichs Stoßarmee: Das Berufsheer, die Lösung von morgen") hatte de Gaulle schon als Oberstleutnant fünf Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkrieges gemahnt, Mobilität sei der Schlüssel zur richtigen Strategie, mit Luftstreitkräften und Panzern als wichtigsten Unterstützungsmitteln.
Und wer hat nicht die heutige Lage in Kiew vor Augen, wenn Kissinger de Gaulles Wirken zusammenfasst: Zunächst als Anführer der Freien Franzosen während des Krieges, später als Gründer und Präsident der Fünften Republik habe er Visionen heraufbeschworen, die über die objektive Realität hinausgegangen seien, und habe sein Publikum überzeugt, sie als Tatsachen zu betrachten: "Für de Gaulle war Politik nicht die Kunst des Möglichen, sondern die Kunst des Gewollten." Über wen in Europa könnte Kissinger dies heute schreiben?
Eine Versuchung zum Déjà-vu erlebt man auch, wenn Kissinger in "Vers l'Armée de Métier" einen resignierten Befund de Gaulles erkennt: "Es war einmal ein altes Land, das gehemmt war durch Gewohnheit und Umsicht. Einst das reichste und mächtigste Volk, das mitten auf der Weltbühne stand, zog es sich nach großen Schicksalsschlägen gleichsam in sich selbst zurück. Während um es herum andere Völker sich weiterentwickelten, blieb es unbeweglich." Über welches Land in Europa könnte man dies heute feststellen? Über das Großbritannien, das Margaret Thatcher hinterließ, sicherlich nicht.
Als Argentinien 1982 die Falklandinseln militärisch besetzte, die seit 1833 britisches Territorium waren, wurde in den UN, in deren Gründungsdokumenten die Staatssouveränität gemäß dem Westfälischen System verankert ist, Thatchers Verteidigung dieser Souveränität heftig kritisiert. Man teilte dort ihre Ansicht nicht, dass es beim Schicksal von ein paar dünn besiedelten Inseln im Südatlantik um wichtige Prinzipien ging, sondern sah in der Okkupation durch Argentinien lediglich eine längst überfällige Episode der Dekolonisierung. Washington zeigte sich gespalten. Und auch innerhalb der NATO fiel die Unterstützung nach Kissingers treffendem Urteil nur "lau" aus. Hingegen versicherte Frankreichs Präsident Mitterrand der britischen Premierministerin: "Sie sollen wissen, dass andere Ihre Ablehnung dieser Art von Aggression teilen."
Thatchers Verteidigungsminister John Nott vertrat allerdings die Ansicht, eine militärische Rückeroberung der mehr als 11 000 Kilometer entfernten Inseln sei nicht möglich. Hier merkt Kissinger an, dass eine der wichtigsten Funktionen von Führungsstärke darin bestehe, Mitarbeiter über das hinaus zu inspirieren, was diese für möglich halten. Mit ihrer ausgeprägten inneren Zuversicht habe Thatcher ihre Regierung vorangetrieben. "Sie werden sie zurückerobern müssen", habe sie zu Nott gesagt. Als er darauf beharrt habe, dass dies nicht möglich sei, habe sie einfach wiederholt: "Sie müssen."
Thatchers Weigerung, ein Nein als Antwort zu akzeptieren, erwies sich in Kissingers Augen als richtig, da nun der Erste Seelord eine Lösung fand: Sir Henry Leach empfahl, einen Flottenverband zusammenzustellen, der - wenn auch mit einem beträchtlichen Risiko - in der Lage wäre, die Falklandinseln zurückzuerobern. Thatcher wies ihn unverzüglich an, die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Ein weiteres Kapitel britischer Militärgeschichte begann - zu ihm zählt auch, dass Thatcher bei Kriegsende an die Familien ihrer gefallenen Soldaten 255 handgeschriebene Briefe gesandt hatte. Kissingers Fazit: "Indem Thatcher ihre Glaubwürdigkeit auf dem Schlachtfeld unter Beweis stellte, hatte sie auch die Position des Westens im Kalten Krieg gestärkt."
Diese Passagen bei Kissinger seien vor allem denen empfohlen, die heute für eine Teilung der Ukraine plädieren und sich von der Belohnung des russischen Aggressors neue Stabilität in Europa erhoffen. Thatcher hätte darauf sicherlich direkt eine klare Antwort gegeben - so wie sie es 1990 tat, als der Irak das benachbarte Kuwait überfiel. In ihrer Wahrnehmung war Saddam Hussein ein ähnlich skrupelloser Diktator wie der argentinische Junta-General Galtieri, der Appeasement-Versuche lediglich als Ermutigung auffassen würde. Wenn man die irakische Aggression ungestraft ließe, müsse dies eine schwere Belastung für die internationale Ordnung bedeuten: "Die britische Außenpolitik ist dann am schlechtesten, wenn sie wie im Fall des Sudetenlands und der Tschechoslowakei das Territorium anderer Länder verschenkt."
Wie man Verbündete gegen eine Ag-gression von außen effektiv und nachhaltig unterstützen kann, führt Kissinger auch am Beispiel von Richard Nixon vor Augen. Der amerikanische Präsident wurde wie sein Land von Ägyptens und Syriens Überraschungsangriff auf Israel an Jom Kippur 1973 unvorbereitet getroffen. Die israelischen Verluste waren unerwartet hoch - vor allem an Panzern und Flugzeugen. Sie zu ersetzen wurde rasch zu einer Herausforderung.
Nixon reagierte ebenso rasch, indem er bereits ab dem zweiten Kriegstag den Transport von militärischer Hightech-Ausrüstung nach Israel über eine durch private israelische Fluglinien organisierte Luftbrücke genehmigte. Darüber hinaus ordnete er den Einsatz von amerikanischen Militärtransportern an. Auch ließ er dem israelischen Botschafter versichern, dass die Vereinigten Staaten nach dem Krieg die gesamten Materialverluste von Israels Streitkräften ersetzen würden und sie daher ihre Reserven nutzen sollten, solange die USA daran arbeiteten, Nachschub zu organisieren und zu liefern.
Nixons vorrangiges Ziel war die Wiederherstellung des Gleichgewichts der Kräfte - zunächst im Hinblick auf die militärische Schlagkraft Israels und dann als Auftakt zu diplomatischen Bemühungen. Das Ergebnis war ein Waffenstillstand und schließlich ein Friedensprozess im Nahen Osten. Wird derlei "Staatskunst" auch im heutigen Europa aus Russlands Krieg gegen die Ukraine her-ausführen? THOMAS SPECKMANN
Henry Kissinger: Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert.
C. Bertelsmann Verlag, München 2022. 603 S.
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