Der große neue Roman der preisgekrönten Autorin Nino Haratischwili
Das letzte Jahrhundert neigt sich dem Ende entgegen und in Georgien werden die Stimmen, die eine Ablösung vom ehemals allmächtigen Riesen fordern, lauter. In dieser Zeit wachsen vier unterschiedliche Mädchen - Dina, Ira, Nene und Qeto - in Tiblisi auf. Sie erleben die erste große Liebe, die mit der Unabhängigkeit des Landes aufbrandende Gewalt und Knappheit - und die Gespaltenheit einer jungen Demokratie in Aufruhr, die einen Keil in ihre Familien treibt. Allem zum Trotz scheint ihre Freundschaft unzerbrechlich, bis ein unverzeihlicher Verrat und ein tragischer Tod sie schließlich doch auseinandersprengt. Erst eine Ausstellung 2019 in Brüssel bringt die Freundinnen wieder zusammen und Vergebung scheint möglich.
»Das mangelnde Licht« ist die Geschichte eines verlorenen Landes und einer verlorenen Generation, einer Revolution, die ihre Kinder frisst, die Geschichte einer Freundschaft, die dem Tod trotzt, eines Phantomschmerzes, eines Kampfes mit sich und der Welt, eines Ringens mit dem Schicksal. Und es ist eine Hommage an Georgien, an die Stadt Tbilissi und ihre Menschen, eine Liebeserklärung durch die Zeiten hindurch.
Besprechung vom 24.02.2022
Wenn die Zeit seitwärts geht
Was macht ein grausamer Bürgerkrieg mit denen, die ihn überleben? In Nino Haratischwilis Roman "Das mangelnde Licht" versuchen vier junge Frauen, im umkämpften postsowjetischen Georgien den Weg in eine zivile Gesellschaft zu finden.
Als Keto an diesem Wintertag Anfang 1992 nach Hause kommt, sitzt im Wohnzimmer eine Fremde. Ein Mädchen, offenbar eine Nachhilfeschülerin ihrer Großmütter, eingehüllt in einen Ski-Anzug. Sie sitzt auf der höchsten Stufe einer Leiter, weil sich die Restwärme im Raum in den oberen Luftschichten konzentriert, und liest versunken in einem zerfledderten Buch. Für Keto, die Erzählerin in Nino Haratischwilis neuem Roman "Das mangelnde Licht", wird daraus ein enorm aufgeladenes Bild: Das Mädchen sitzt da "wie eine anbetungswürdige Ikone", die Leiter wirkt durch sie, "als wäre sie ein goldener Thron in einem verzauberten Reich", und die Verse im Buch - Hölderlin, stellt Keto sich vor - stiften im Leben des Mädchens "womöglich den einzigen Sinn, die einzige Schönheit". Später, sagt Keto, hätte sie oft bedauert, den Moment mit Stift und Zeichenblock nicht wenigstens skizziert zu haben. "Und hätte ich es damals getan, dann hätte ich mir ein gewisses Pathos erlaubt und das Bild mit 'Georgische Madonna ohne Kind' betitelt."
Eine Episode aus dem Bürgerkrieg, aus einer von gleich mehreren Krisen, die sich im Georgien der Neunzigerjahre überlagerten und gegenseitig hervorbrachten: die blutige Ablösung des 1921 der Sowjetunion einverleibten Staates von den Okkupanten (die sich dann etwa zwanzig Prozent des Landes zurückholten und bis heute besetzt halten), die Herrschaft und Vertreibung des ersten Präsidenten Swiad Gamsachurdia, die aufkommende Bandenkriminalität paramilitärischer Gruppen, schließlich der Krieg mit der abtrünnigen Provinz Abchasien und deren russischen Helfern, der in eine katastrophale Niederlage Georgiens mündete.
Vier Freundinnen, die in diesen Jahren in der georgischen Hauptstadt aufwachsen, stehen im Mittelpunkt des Romans. Gleich die erste Szene, angesiedelt 1987 in Tiflis, zeigt Charakteristika der jeweiligen Mädchen ebenso wie die Mechanismen ihrer ungewöhnlich soliden Verbundenheit: Die Vierzehnjährigen brechen, angeführt von der furchtlosen Dina, in den botanischen Garten der Stadt ein, die romantische Nene und die kluge Ira folgen ebenso wie Keto, die sich unmittelbar an Dinas Fersen geheftet hatte, der Freundin bis zu einem Bassin. Auf einem Vorsprung nehmen sich Dina und Keto bei den Händen. Dann springen sie hinunter ins Wasser.
So erzählt es Keto, wortreich, anschaulich, bildgewaltig, mit Sätzen, die das unmittelbare Erleben gern für eingeschobene distanzierte Betrachtungen verlassen oder sich mitunter gar wie Sentenzen anhören. Es ist eine Sprache, die ersichtlich bemüht ist, einer dauernden Anspannung Herr zu werden und eine verwirrende, oft verstörende Welt einzufangen, indem sie sich ihr kühl beobachtend nähert und dabei auch auf tradierte Muster und Figuren zurückgreift, sodass ein lesendes Mädchen aus der Rückschau eben zur Bedeutung stiftenden Ikone avanciert.
Den Grund dafür macht der Rahmen des Romans rasch klar: Keto besucht im Sommer 2019, zwanzig Jahre nach Dinas Tod, in Brüssel eine Ausstellung mit den berühmt gewordenen Fotoarbeiten der Freundin. Sie zeigen die Unruhen jener Jahre, auch die Kriegshandlungen in Abchasien, wohin Dina ihrem journalistischen Mentor als Pressefotografin folgte, während der Mentor selbst dort ums Leben kam. Und sie zeigen immer wieder die vier Freundinnen, zusammen oder allein, auch in Extremsituationen, wobei Dina sich selbst nicht ausspart.
Die Folge ist, dass Keto auf der Vernissage, zu der auch Nene und Ira gekommen sind, immer wieder von Wildfremden angesprochen wird, die ihr Gesicht erkennen und sie aufgrund der eindrucksvollen Fotos zu kennen glauben. Zugleich wird jedes der Fotos für sie selbst zum Anlass, sich zu erinnern - an die Entstehungszeit allgemein, aber auch an den speziellen Moment, in dem das jeweilige Bild aufgenommen wurde. Daraus erwächst der Roman, der eine grobe chronologische Ordnung besitzt, die zugleich aber durch ständige Vorausdeutungen in Ketos Erzählung durchbrochen wird: Dass Dina sich kurz vor der Jahrtausendwende umbringen wird, wird bereits im ersten Teil des Romans erwähnt, und auch den schlimmen Ausgang, den die meisten Liebesgeschichten und viele der Lebensläufe nehmen werden, können wir in vielen Fällen durch die Andeutungen der Erzählerin vorauswissen. Einige werden ermordet, andere sterben den Drogentod, einer verschwindet, einer beendet seine Tage im Rollstuhl, eine flieht nach einer entsetzlichen Erfahrung in den Wahnsinn. Und einer, der seinen Aufstieg in der Mafiahierarchie ohne sichtbaren Schaden hinter sich gebracht hat, stolziert viele Jahre später mit den Insignien des Erfolgsgangsters durch Tiflis.
Für Keto ist die Zeit aus der Perspektive von 2019 gesehen keine Linie, sondern eine Fläche, es gibt kein Nacheinander, sondern eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse, in denen aber nur selten Kausalität zu finden ist. Eine gewichtige Ausnahme ist eine Szene, die zumindest in Ketos Erinnerung zum entscheidenden Moment des gesamten Geschehens avanciert, ein Ereignis während der bürgerkriegsartigen Unruhen in Tiflis, das sie in der Rückschau geradezu mythisch überhöht - ihr selbst ist das nicht klar, während es der Leser rasch merkt. Dina, die mit Ketos Bruder Rati zusammen ist, hat fünftausend Dollar aufgetrieben, um ihn bei den korrupten Behörden aus dem Gefängnis freizukaufen. Auf dem Weg dorthin geraten sie in einen Demonstrationszug, der gewaltsam aufgelöst wird. Auf der Flucht nehmen sie den Weg durch den Zoo. Sie stoßen auf zwei Gangster, die zwei Männer in ihrer Gewalt haben, aus denen sie Geld herauspressen wollen. Das eine Opfer ist bereits tot, das andere liegt hilflos am Boden. Keto will fliehen, Dina aber beschließt, den Mann auszulösen - mit dem eigentlich für Ratis Befreiung vorgesehenen Geld.
Das hat Folgen, nicht nur für die Beziehung zwischen Dina und Rati, sondern auch für viele andere Figuren im Roman. Ob sich aus der Entscheidung aber eine Frage von Schuld und Verantwortung konstruieren lässt, stellt sich aus unterschiedlichen Perspektiven jeweils anders dar, und auch, welche Möglichkeiten eine Zeit wie diese dem Einzelnen lässt, unbeschadet an Leib und Seele hinauszufinden. Indem man, wie Ketos Vater, Schallplatten auflegt und die Augen vor allem verschließt? Indem man demonstrierend auf die Straße geht und täglich die eigene Hilflosigkeit erlebt? Einen Aufstieg als Gangster anstrebt, um den anderen Gangstern etwas entgegenzusetzen? Das Land verlässt? Kinder bekommt, die es einmal besser haben sollen? An den vier Freundinnen wird all das durchgespielt, und während Dina, die mit ihren Fotos die Gesellschaft aufrütteln will, letztlich daran zerbricht, wählt die kluge Ira, die seit Kindertagen hilflos in Nene verliebt ist und in den USA zur Erfolgsjuristin aufsteigt, schweren Herzens einen anderen Weg: Sie bringt Nenes Bruder, der als Rauschgifthändler reich geworden ist, vor Gericht und sorgt für seine Verurteilung, um der Zivilgesellschaft willen.
"Dinas Freiheitsdrang, Iras Vernunft und Nenes Träumereien": Aus Ketos Perspektive zeichnet sie "nichts von alldem" aus; sie fühlt sich in dieser Konstellation zur "Schlichterin" prädestiniert - aber eben auch zur Chronistin. Das klingt einleuchtend, offenbart im Verlauf der 830 Seiten des Romans aber seine Tücken, und während Keto von den Geschicken der Freundinnen erzählt und sie einordnet, fragt man sich mehr und mehr, was eigentlich mit ihr ist, der Erzählerin - bis hin zum überraschenden Ende. Um dieses Chronistentum geht es, um die Fotografien, die eingefrorene Zeit sind und zugleich Erzählkeime, und um das Zusammenspiel zwischen diesen beiden Funktionen, die einander durchaus in die Quere kommen können.
Was jedenfalls zu Beginn des Romans eine gewisse Sicherheit versprach, die souveräne Erzählung Ketos, entpuppt sich im weiteren Verlauf als trügerisch. So wie auch die manipulativen Bilder Dinas nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden, jetzt aber, in der Brüsseler Ausstellung, Gefahr laufen, das Bild der Vergangenheit unverrückbar zu prägen.
Sie habe sich "mit fast militärischer Disziplin das Gewesene ausgetrieben", sagt Keto zu Beginn. Wie leicht das nach hinten losgehen kann, weiß man. Und auch dass Ketos Geschick in ihrem Beruf als Restauratorin nicht auf den Umgang mit der Vergangenheit anwendbar ist. Indem Haratischwili nach ihrem großen, ein Jahrhundert umspannenden Georgien-Roman "Das achte Leben" hier den Fokus auf das lenkt, was von einem Bürgerkrieg in den Überlebenden bleibt, könnte "Das mangelnde Licht" dieser Tage eine bittere Aktualität gewinnen. Am Ende, immerhin, wird Ketos Sohn Rati von Deutschland aus in das Land aufbrechen, aus dem seine Mutter lange zuvor geflohen ist. TILMAN SPRECKELSEN
Nino Haratischwili: "Das mangelnde Licht". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2022. 832 S., geb.
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