Elena ist schließlich doch nach Neapel zurückgekehrt, aus Liebe. Die beste Entscheidung ihres ganzen Lebens, glaubt sie, doch als sich ihr nach und nach die ganze Wahrheit über den geliebten Mann offenbart, fällt sie ins Bodenlose. Lila, die ihren Schicksalsort nie verlassen hat, ist eine erfolgreiche Unternehmerin geworden, aber dieser Erfolg kommt sie teuer zu stehen. Denn sie gerät zusehends in die grausame, chauvinistische Welt des verbrecherischen Neapels, eine Welt, die sie Zeit ihres Lebens verabscheut und bekämpft hat.
Bei allen Verwerfungen und Rivalitäten, die ihre lange gemeinsamen Geschichte prägen - Lila und Elena halten einander die Treue, und fast scheint das Glück eine späte Möglichkeit. Aber beide haben sie übersehen, dass ihre hartnäckigsten Verehrer im Lauf der Jahre zu erbitterten Feinden geworden sind.
Besprechung vom 10.02.2018
Im Verlies der Puppen
Der letzte Band von Elena Ferrantes Freundinnen-Saga
Was bleibt von Elena Ferrantes "Neapolitanischer Saga", jetzt, da der vierte, abschließende Band "Die Geschichte des verlorenen Kindes" auch auf Deutsch zu lesen ist? Die insgesamt mehr als 2200 Seiten umfassende Tetralogie über eine Mädchenfreundschaft aus dem Italien der Nachkriegszeit, die sich über sechzig Jahre bis in unserer Gegenwart erstreckt, hat, von Italien ausgehend, nicht nur Leser in aller Welt gefunden. Sie hat auch, zumindest hierzulande, die Buchgestaltung geprägt. Zumindest fällt ins Auge, dass Verlage bei ihren italienischen Autoren neuerdings zu ganz ähnlichen Stilmitteln greifen, wenn sie Ferrante-typisch auf dem Cover gezeichnete Figuren von hinten oder im Halbprofil zeigen, die auf Landschaft oder dramatische Himmel blicken.
Dramatisch, das ist das Stichwort für den von Karin Krieger auch diesmal geräuschlos aus dem Italienischen übersetzten vierten Band, der die Geschichte zweier denkbar unterschiedlicher Frauen, die dennoch voneinander nicht lassen können, von den mittleren Jahren bis ins Großmutteralter erzählt. Grausames ereignet sich in deren zweiter Lebenshälfte. Denn nicht nur wenden sich in dem armen, schmutzigen und mafios durchsetzten Arbeiterviertel Rione die Dinge auch mit der voranschreitenden Zeit nicht zum Besseren, wovon Lila und ihre Freundin, die Erzählerin Elena, und mit ihnen zahllose weitere Figuren in diesem horizontal erzählten Panorama unmittelbar betroffen sind. Dieses süditalienische Sittenbild, das Ferrante da ausbreitet, lässt ein Land erkennen, das von der politischen Kaste nicht weniger im Würgegriff gehalten wird als von der Mafia. Neu ist diese Erkenntnis freilich nicht, die sich auch in Büchern von Roberto Saviano oder Petra Reski finden lässt. Doch die Verknüpfung des Politischen mit der Intimgeschichte zweier Frauen, aus weiblicher Sicht gesehen, verleiht diesem Erzählreigen seinen Reiz.
Dass ausgerechnet der letzte Band literarische Schwächen aufweist, ist da umso bedauerlicher. Gerade mit Blick auf das Gesamtgefüge fällt auf, dass die Autorin den komplizierten Mädchen- und Jugendjahren ihrer Hauptfiguren deutlich mehr Tiefe abgewinnen kann als dem Porträt der alternden Frauen. Dass beide ihrer Jugendliebe, dem so verführerischen wie manipulativen Nino Sarratore, nachtrauern, lässt sich vor allem bei der so reflektierten Elena irgendwann nicht mehr nachvollziehen. Viel zu lange müssen wir der inzwischen zur Erfolgsautorin avancierten Erzählerin in ihrem Lamento über den untreuen Geliebten folgen, während sie ausgerechnet mit feministischen sowie autobiographischen Büchern für Aufsehen sorgt, wofür sie sich sogar mit der lokalen Mafia anlegt.
Auch wenn Erkenntnisse über die Dinge des Lebens durch blinde Flecken ausgerechnet im eigenen Leben oftmals nicht durchdringen, man an anderen kritisiert, worunter man selbst am allermeisten leidet, hätten Elenas selbstverschuldete Seelenqualen - ihren Mann hat sie verlassen, ihre Töchter einer ungewissen Zukunft ausgesetzt - gut hundert Seiten kürzer ausfallen dürfen. Selbst als Nino auch dann nicht daran denkt, seine Familie zu verlassen, als Elena von ihm schwanger wird und eine weitere Tochter zur Welt bringt, lässt sie sich das noch immer gefallen, bis auch sie endlich bereit ist, emotional umzusetzen, was sie intellektuell längst durchdrungen hat.
Während Elena als alleinerziehende Mutter dreier Töchter zurück in den Rione kehrt, ausgerechnet ins Haus ihrer geliebten Feindin Lila, widerfährt dieser das Schlimmste, was einer Mutter nur zustoßen kann: Sie verliert ihre Tochter. Kurz vor dem vierten Geburtstag verschwindet das Mädchen spurlos im Rione und alle Suchaktionen verlaufen ins Leere. Der Verdacht, es könnte sich dabei um eine Verwechslung und einen Racheakt der Mafia handeln, der sich in Wahrheit gegen Elena richtete, wird bis zuletzt nicht aufgelöst.
Die magische Lila mit den vielen Leben, Schustertochter, hochbegabte Schulabbrecherin, Ehefrau, Geschiedene, Fabrikarbeiterin, hatte es zuletzt zur erfolgreichen Unternehmerin mit einem Computer-Start-up gebracht. Nach dem privaten Schicksalsschlag aber verhärmt die emotional zugerichtete Frau zusehends, und ihr finales Verschwinden, das zugleich den Ausgangspunkt dieser Neapolitanischen Saga darstellt, ist nunmehr in einem ganz anderem Licht zu betrachten. Zuletzt gelangen wir tatsächlich zu jener Urszene im ersten Band zurück, in der Elena sich daran erinnert, wie sie und ihre Freundin einst als kleine Mädchen ihre Puppen im Treppenhaus des bösen Don Achille verloren hatten.
Warum sich Lila am Ende in nichts auflöst, wie sie es zeitlebens immer gespürt hat, darauf findet diese Erzählung viele Antworten und zugleich keine. So schnörkellos und literarisch unambitioniert Elena Ferrante schreibt, so intensiv leuchtet sie ihr psychologisches Porträt immer wieder aus. Das verleiht dem Romanreigen die ganz eigene Kontur.
SANDRA KEGEL
Elena Ferrante: "Die Geschichte des verlorenen Kindes".
Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
614 S., geb.
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