Marcos verantwortet die Produktion einer Schlachterei. Er kontrolliert die eingehenden Stücke, kümmert sich um den korrekten Schlachtvorgang, überprüft die Qualität, setzt die gesetzlichen Vorgaben um, verhandelt mit den Zulieferern . . . Alles Routine, Tagesgeschäft, Normalität. Bis auf den Umstand, dass in der Welt, in der Marcos lebt, Menschen als Vieh zum Fleischverzehr gezüchtet werden.
Dieser Roman hält uns Fleischfressern kompromisslos den Spiegel vor. Er stellt Fragen in den Raum - nach Moral, Empathie, den bestehenden Verhältnissen. Und er verschafft, was nur die Literatur verschafft: neue Einsichten, neue Gefühle, nachdem alle Argumente längst ausgetauscht sind.
Besprechung vom 08.03.2020
Zeit der Kannibalen
Ein Bestseller über den Kapitalismus als Schlachthof
Dies ist kein realistischer Roman. Zum Glück. Die albtraumhafte Welt, von der die argentinische Schriftstellerin Agustina Bazterrica in "Wie die Schweine" erzählt, ist nicht unsere. Und doch muss man an manchen Stellen denken: Wäre da nicht dieses eine Detail, könnten die Dinge, die im Buch vorkommen, genauso in unserer Wirklichkeit stattfinden.
In Bazterricas Welt werden Menschen von Menschen gefressen. Das ist das Detail. Wie es dazu kommt, erfahren wir bereits auf den ersten Seiten: Als Regierungen und Medien weltweit melden, dass ein neuentdecktes Virus, das alle Tierarten befällt, auch für Menschen tödlich sein könnte, wird der Konsum von Tierfleisch verboten und die gesamte Tierpopulation vernichtet. Doch der Hunger der Bevölkerung nach Fleisch ist unstillbar (und offensichtlich kommt niemand auf die Idee, jene Fleischersatzprodukte herzustellen, die in unserer Welt gerade immer beliebter werden). Also beginnen einige Menschen, heimlich Menschen zu töten und zu essen.
Zuerst geschieht dies illegal und mörderisch, in manchen Ländern verschwinden massenweise Immigranten, Obdachlose, Arme. Bald aber setzt die milliardenschwere Fleischindustrie, aus Mangel an Rohstoffen zum Stillstand gekommen, die Regierungen unter Druck: Und so wird die Produktion des sogenannten "Spezialfleischs" legalisiert. "Die Schlachthöfe und Regulierungen wurden angepasst. Es dauerte nicht lange, da wurden sie wie Vieh gezüchtet, um die massive Nachfrage zu stillen." Agustina Bazterricas Roman spielt in der nahen Zukunft, als seine Handlung einsetzt, ist der industrialisierte Kannibalismus nicht nur offiziell etabliert: Er ist vor allem vollkommen selbstverständlich geworden.
Marcos ist Produktionsleiter in einem der Schlachthöfe für "Spezialfleisch", der Roman begleitet ihn durch seinen Tag. Dass er seinen Job hasst, ist von Anfang an klar. Fast jeden Tag wacht Marcos aus Albträumen von "Blut, Gestank, Automatisierung" schweißgebadet auf: "Er weiß, dass ihn ein weiterer Tag erwartet, an dem er Menschen schlachten muss" - auch wenn niemand offen von "Menschen" sprechen darf, sondern nur von "Stücken", "Männchen", "Weibchen". Marcos glaubt, wie viele um ihn herum, dass es in Wirklichkeit gar kein Virus gibt, sondern dass es vielmehr eine Erfindung ist, um die Überbevölkerung zu stoppen. Menschen zu essen, die nicht in zweckmäßigen Farmen gezüchtet wurden, ist zwar immer noch illegal, wird aber nicht wirklich betraft, ein riesiger Schwarzmarkt ist entstanden.
Aber kündigen kann Marcos seinen Job trotzdem nicht, auch wenn er ihn hasst - weil er für seinen Vater sorgen muss. Dem hat früher jener Schlachthof gehört, in dem Marcos nun arbeitet, beim "Übergang" zum neuen System hat der Vater dann einen Nervenzusammenbruch erlitten. Marcos lebt ein Leben in Stumpfsinnigkeit und Apathie, sein Sohn ist noch als Baby gestorben, seine Ehe gescheitert. Im Grund ist seine Geschichte die bekannte eines angepassten Mannes in einer Welt, in der Lügen und Grausamkeit die Normalität sind - aber dann widerfährt diesem Mann etwas, das ihn aus der Gewöhnlichkeit seiner Tage reißt: Marcos bekommt ein lebendes Geschenk: ein "Weibchen", das er zu Hause züchten soll. Es könnte sein Leben ändern.
"Wie die Schweine" ist der zweite Roman von Agustina Bazterrica, die 1974 in Buenos Aires geboren wurde. Nach seinem Erscheinem im Jahr 2017 stand der Roman wochenlang auf den argentinischen Bestsellerlisten und gewann schließlich den Premio Clarín, einen der wichtigsten Literaturpreise Argentiniens. (Im Spanischen trägt das Buch übrigens einen passenderen Titel als im Deutschen, "Cadáver exquisito", nach der kollektiven Schreibmethode der Surrealisten, "Cadavre Exquis".)
Mit nüchternen, unaufgeregten Sätzen führt uns Bazterrica durch eine barbarische und groteske Welt. Ein Geschäftsnetzwerk hat sich um die neue Enährungsweise entwickelt, von den Farmen, auf denen Menschen gezüchtet werden, den Betrieben, in denen sie industriell geschlachtet werden, den Lederfabriken, wo ihre Haut für die Modebranche bearbeitet wird - bis zu den Jagdspielen, für die die stärksten Exemplare der Farmen bestimmt werden, zu den Experimenten mit lebendigen "Stücken", die eine gewisse Doktor Valka - von ihren Mitarbeitern heimlich "Doktor Mengele" genannt - in einem Labor durchführt, und zuletzt zu den Fleischereien, in denen sich Verkäufer und Kunden über die besten Stücke fürs Mittagessen unterhalten.
Ohne Zweifel, kein angenehmes Buch. Das oft sogar Ekel hervorruft, Erschrecken und zugleich dennoch eine morbide Neugier. Die makabre Anziehungskraft rührt nicht zuletzt daher, dass Bazterricas grausame neue Welt, so monströs, wie sie ist, uns doch immer wieder bekannt vorkommt. Das ist beunruhigend - und eine der Stärken des Buches.
Dabei wirkt dieser dystopische Roman zunächst eher konventionell. Er erinnert an Ray Bradburys berühmtes "Fahrenheit 451" aus dem Jahr 1953, über eine Welt, in der Bücher verboten sind, und einen desillusionierten Feuerwehrmann, der sich dagegen wehrt, seinen Job zu tun, also jedes Buch, das er aufspüren kann, zu verbrennen - ein Akt des zivilen Ungehorsams, der die Perspektive auf eine andere Welt öffnet. Auch Marcos, der Schlächter, stellt das System, in dem er selbst eine so aktive Rolle spielt, mehr und mehr in Frage. Handelt "Wie die Schweine" also von der Wiederentdeckung der Menschlichkeit? Der Eindruck täuscht: Nach und nach wird nämlich klar, dass der Roman - im Unterschied eben zu den Konventionen des dystopischen Genres - etwas anderes verspricht als ein Erwachen des "Helden" und seiner Welt. Bei einem so heftigen Buch wie diesem wünscht man sich nichts anderes als eine Form der Erlösung. Aber der Schluss ist verblüffend. Denn Bazterrica bleibt konsequent, was hier heißt: gnadenlos.
An manchen Stellen des Romans zeigt sich etwas zu plakativ die Absicht der Autorin, ihr Publikum zu schockieren. Und doch wirkt die Entscheidung der Autorin, uns den Wunsch nach einer beruhigenden Heldenreise zu verwehren, auf gespenstige Weise erfrischend. Bewohnen wir doch selbst Realitäten, die sich manchmal wie ausgedachte Dystopien anfühlen können, und vermuten, dass funktionelle Ordnungen - auch wenn sie auf Ungerechtigkeit und Rohheit fußen - leider nicht leicht zu demontieren sind.
Im Jahr 1729 veröffentlichte Jonathan Swift eine Satire gegen den englischen Imperialismus, sie ist weltberühmt geworden: "Ein bescheidener Vorschlag, wie Kinder armer Leute zum Wohle des Staates am besten benutzt werden können" empfiehlt den Kannibalismus zur demographischen Kontrolle Irlands. Ein prominenter Einfluss auf diesen Roman, Bazterrica weist fast wortgetreu darauf hin. Die Schriftstellerin zehrt auch von einer - innerhalb Lateinamerikas - spezifisch argentinischen Tradition, die sich vom sogenannten "Magischen Realismus" abgrenzt, unter dem man so oft die gesamte lateinamerikanische Literatur der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu erfassen glaubt: Das Genre der phantastischen Literatur hat - auf Jorge Luis Borges folgend - Autoren wie Adolfo Bioy Casares oder César Aira geprägt und bizarre oder grässliche alternative Realitäten erträumt.
Vor allem aber gehört Agustina Bazterrica einer neuen Generation von Erzählerinnen an, die einige der originellsten und erschütterndsten Werke der heutigen Literatur Lateinamerikas hervorbringen: wie Lina Meruane aus Chile, Karina Sainz Borgo aus Venezuela, Samanta Schweblin aus Argentinien oder Valeria Luiselli aus Mexiko.
Woher auch immer die Einflüsse stammen: Ihr Roman über "Menschen, die sich gegenseitig fressen", hat Agustina Bazterrica erklärt, soll eine Realität widerspiegeln, "in der dieses gegenseitige Fressen schon seit langem stattfindet, wenn auch nur symbolisch". Es handelte sich um die Realität des Kapitalismus, der "ein Schlachthaus ist". Als allgemeine Kapitalismuskritik ist Bazterricas Allegorie sicher interessant: Aber seine wirklich aufwühlende Wirkung entfaltet dieser Roman, setzt man ihn in Beziehung zum menschlichen Umgang mit Tieren.
Die Welt, in der "Wie die Schweine" spielt, mag nicht unsere sein. Doch die grauenvollen Prozeduren der Aufzucht und Tötung, die hier fachmännisch geschildert werden, sind nicht ausgedacht. Was der Roman vorführt - zwar auf zugespitzte und, weil auf Menschen projiziert, bestürzende Weise - sind nichts anderes als die real existierenden Umstände der modernen Fleischproduktion. Die ja immer noch einen wichtigen Teil der weltweiten Wirtschaft ausmacht.
Und bedenkt man dann, dass dieser Roman aus Argentinien kommt, wo Fleischkonsum so etwas wie nationale Leitkultur ist, erkennt man noch deutlicher seine eigentliche, ungemütliche Frage: Wie grausam wollen wir sein, um unseren Hunger zu stillen?
HERNÁN D. CARO
Agustina Bazterrica: "Wie die Schweine". Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Suhrkamp. 237 Seiten
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