Was wäre, wenn jemand einen Cyberkrieg auslöst? Und was wäre, wenn im Rahmen eines solchen Kriegs eine Künstliche Intelligenz ein Bewusstsein entwickelt und die Welt im Chaos versinkt? Um genau diese Themen geht es in dem Thriller "Das Erwachen" von Andreas Brandhorst. Die Hauptfigur Axel Krohn stößt auf ein Computerprogramm namens Mephisto, das von der NSA entwickelt wurde, und löst durch sein unvorsichtiges Agieren einen weltweiten Cyberkrieg aus, indem er den Code einer Waffe namens "Infiltrator" freisetzt. Dieser Code ist die Initialzündung dafür, dass eine MI, eine sog. Maschinenintelligenz, erwacht. Die NSA will ihn daraufhin aus dem Verkehr ziehen, setzt zwei Agenten auf ihn an und will gleichzeitig vertuschen, dass sie etwas mit Mephisto zu tun hat. Auf seiner Flucht vor der NSA erhält Axel Krohn Unterstützung von Giselle Leroy, Angestellte von Living Magic, einer Firma, die die NSA bei der Entwicklung des Programms unterstützt hat, und zeitgleich Whistleblowerin. Sie gehört zu einer internationalen Gruppe um Edward Snowden namens Veritas, die Korruption, Menschenrechtsverletzungen und Datenmissbrauch enthüllt. Weitere Unterstützung erhält Axel Krohn von einem weiteren Hacker namens Dark Rider. Neben der NSA sind auch Coorain Coogan, Mitarbeiter der Strategic Cyberforce Advanced Response (SCAR), sowie Michael Rossmann, Hauptkommissar der deutschen Polizei, hinter Axel Krohn her. Sie arbeiten zusammen, agieren unabhängig von der NSA und sie verfolgen eigene Interessen. Sie wollen Krohn vor der NSA schützen. Im Buch geht es also v.a. um ein Katz- und Maus-Spiel zwischen Krohn, Leroy und den genannten Verfolgern, und das innerhalb einer Welt, die im Chaos versinkt. Später geht es dann darum, dass die zum Bewusstsein erwachte Maschinenintelligenz mit ihrem vermeintlichen Schöpfer Axel Krohn in Verbindung treten möchte, weil sein Name im Quellcode von Infiltrator steht. Auch die politische Ebene wird vom Autor in die Handlung einbezogen. Während die Welt ins Chaos stürzt und die Maschinenintelligenz immer mehr Kontrolle gewinnt, versucht Viktoria Jorun Dahl als neu ernannte UN-Sonderbeauftragte für Maschinenintelligenz Gegenmaßnahmen zu ergreifen und in diesem Zusammenhang eine Expertengruppe zusammenzustellen. Und als ob das noch nicht reichen würde, integriert Andreas Brandhorst neben den genannten drei Handlungssträngen, zwischen denen munter die Perspektive gewechselt wird, auch noch sogenannte Streiflicht-Kapitel, in denen die Mission der Mars Discovery knapp angerissen wird (hierzu existiert ein Folgeband). Denn auch auf dem Raumschiff erlangt die Maschinenintelligenz die Kontrolle über alle Systeme. Man könnte nun befürchten, dass die komplexe Handlung den Leser überfordert, doch das ist nicht der Fall. Andreas Brandhorst nimmt sich viel Raum - manchmal sogar etwas zu viel -, um die Handlungsstränge zu erzählen, man verliert als Leser nie den Überblick über das Geschehen oder die Figuren, das Erzähltempo ist nicht sonderlich hoch. Teilweise hätten die Kapitel noch etwas Straffung vertragen, einige Darstellungen geraten sehr ausführlich, auch Wiederholungen sind nicht selten. Insbesondere die Schilderung der Fahrt nach Rom gerät in meinen Augen zu lang. Dies führt dazu, dass die Spannungskurve nicht dauerhaft auf hohem Niveau bleibt, sondern sie schwankt, sie ebbt mal ab, dann steigt sie wieder an. Der zeitliche Abstand zwischen der ersten Kontaktaufnahme mit der MI, die sich genau in der Mitte des Buchs ereignet, und der zweiten Kontaktaufnahme war nach meinem Empfinden zu groß. Denn die Kommunikation zwischen der MI und der Menschheit ist das Highlight des Buchs, und diese Passagen, bei deren Gestaltung der Autor einen wirklich richtig guten Job gemacht hat, hätten kürzer aufeinanderfolgen müssen und sie hätten nach meinem Geschmack auch ausführlicher ausfallen können.Das Buch hat darüber hinaus immer dann seine Stärken, wenn es um philosophische Fragen geht, die Brandhorst gekonnt aufwirft. Sie regen beim Lesen zum Nachdenken an, was mir gut gefallen hat: Wie würde eine Welt aussehen, in der eine MI die von Menschen gemachten Probleme löst und Krankheiten heilt? Wie positioniert sich eine MI zur Gottesfrage? Was ist eigentlich Leben? Und wie definiert man Leben angesichts des Vorhandenseins einer MI? Ist biologische Intelligenz die Grundlage für Maschinenintelligenz? Ist die Menschheit nur ein evolutionärer Zwischenschritt? Auch die Annahmen des Autors zur evolutionären Entwicklung einer Maschinenintelligenz fand ich spannend. Fazit: Ein vielschichtiger Thriller, der interessante Fragen zum Thema einer Maschinenintelligenz aufwirft und der über eine nur schwankende Spannungskurve verfügt, weil ihm eine Straffung an den richtigen Stellen fehlt.